Das Jahr 2023 neigt sich dem Ende zu. Viel ist passiert, auch bei uns in Köln – Zeit genug, auf ein ereignisreiches Jahr zurückzublicken. Kabarettist Jürgen Becker macht das im Gespräch mit EXPRES.de.
Kölner KabarettistJürgen Becker mit Düsseldorfer Karnevals-Geständnis – aber grauenhafte Lieder
Alle Jahre wieder zwischen den Jahren: Der große Jahresrückblick und eine kleine Vorschau mit einem von Kölns Besten, Kabarettist Jürgen Becker (64), im großen EXPRESS.de-Gespräch.
Und natürlich geht es um Köln und die Kölnerinnen und Kölner, den FC, die Baustellen, den Dreck – aber auch die guten Seiten der Stadt. Hier kommt Beckers „Jahresabschuss“ 2023.
Köln-Jahresrückblick mit Kabarettist Jürgen Becker – Karneval, Düsseldorf und die Bläck Fööss
EXPRESS.de: Im April haben wir den 50. Geburtstag der Köln-Hymne „En unserem Veedel“ gefeiert. Hat das Leben, das die Bläck Fööss 1973 besungen haben, noch was mit dem Köln des Jahres 2023 zu tun?
Jürgen Becker: „Ja, hat es. ‚Wie soll dat nur wigger jon‘ fragen sich heute auch viele. Die Fööss haben die Stimmung in Köln geprägt und getroffen. Wir haben heute gefühlt zwei Millionen Lieder, die sich nur darum drehen, wie schön Köln ist, und wenn man so viele Lieder über seine Stadt hört – das ist identitätsstiftend. Da ist zwar jedes Lied mehr oder weniger gelogen (lacht), aber es ist schon gut, dass wir, vergleichbar mit Irland, einen großen Liederschatz haben, der von allenGenerationen geliebt wird. So kann auch Kölsch als Singsprache überleben...“
EXPRESS.de: ...was wir besonders im Karneval merken...
Jürgen Becker: „...und was ich oft selbst erlebe. Ich bin zu Karneval gerne mal in Düsseldorf. Da hat man so gut wie keine eigenen Lieder, dadurch fehlt ganz entscheidendes. Die Düsseldorferinnen und Düsseldorfer haben einen tollen Zug mit den brillanten Wagen von Jacques Tilly, wissen aber leider nicht so recht, was sie dazu singen sollen und spielen deswegen oft irgendwelche furchtbaren Ramba-Zamba-Lieder. Grauenhaft.“
Und weiter: „Ich sehe ja Kölschtümelei durchaus kritisch, muss aber zugeben: Karnevalslieder, die nicht aus Köln kommen, haben oft eine miserable Qualität. Deswegen spielen sie in Düsseldorf zum Schluss doch die kölschen – aber möglichst nur die, in denen der Dom nicht vorkommt.“
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EXPRESS.de: 2023 hatte man das Gefühl, hier sei das ganze Jahr Karneval. Wird zu viel gefeiert?
Jürgen Becker: „Das sollte man nicht so kritisch sehen. Es ist doch toll, dass so viele Leute in Köln Spaß haben wollen. Allerdings sind die Massenveranstaltungen am 11.11. eine Herausforderung. Vor 200 Jahren war der Karneval auch wild und anarchisch, deswegen wurde da das ‚Festordnende Komitee von 1823‘ gegründet. Das hat versucht, das Treiben zu ordnen und kanalisieren.“
Jürgen Becker ergänzt: „Diese Aufgaben hat das Festkomitee heute wieder – das kriegen die hin. Ich glaube, der Karneval befindet sich bei Christoph Kuckelkorn in guten Händen. Wer Beerdigung kann, kommt auch mit Menschen klar, die sich mit Apfelkorn abschießen.“
Köln-Jahresrücknlick: FC, KVB und autofreie Straßen
EXPRESS.de: Großes Jammer-Thema war 2023 auch der FC. Jammern Sie mit?
Jürgen Becker: „Mir fehlt leider das Fußball-Gen. Das liegt daran, dass ich in einer GAG-Siedlung aufgewachsen bin, in der Rasen betreten und Fußball spielen verboten war. Ich habe aber gelernt, dass die Welt nicht untergeht, wenn der FC absteigt. Allerdings bleibt bei dem Vorstand offen, in welcher Liga er letztlich landet. Mit Baumgart ist der Falsche gegangen.“
EXPRESS.de: Im Sommer gab es wieder Diskussionen um die nicht vorhandene Sauberkeit in der Stadt. Ist Köln zu dreckig?
Jürgen Becker: „Nach dem Proteststurm der Stadtführer ist mal kurz ‚feucht durchgewischt‘ worden (lacht). Aber ich sehe das gelassen. Meine Tochter wohnt in Berlin-Neukölln, dagegen ist es hier in Köln tippi toppi.“
EXPRESS.de: Kommunalpolitisches Ziel ist es, Köln irgendwann weitgehend autofrei zu bekommen. Waren wir 2023 auf einem guten Weg?
Jürgen Becker: „Ich kenne Städte, die da schon weiter sind. Natürlich ist es im Moment für einige Leute nicht so einfach, aufs Auto zu verzichten. Es ist auch eine Frage des öffentlichen Nahverkehrs. Wie der mal aussehen könnte, kann man jetzt schon ein bisschen in Monheim besichtigen. Da sind die Öffentlichen umsonst, es gibt Kleinbusse, die autonom fahren, ohne Fahrer. Da entsteht ein intelligentes Verkehrssystem für die Zukunft, das effizienter wird als der private PKW.“
EXPRESS.de: Glauben Sie, dass die KVB das in Griff bekommt?
Jürgen Becker: „Ja, ich denke, dass die KVB besser ist als ihr Ruf. Ich benutze sie oft, und hin und wieder klappt es. Sie ist nach meiner Erfahrung besser als die Bahn. Wenn bei der KVB ein Bus ausfällt, kommt meistens in fünfzehn Minuten der nächste, bei der Bahn habe ich schon Stunden gewartet. Es heißt ja, dass an dieser Situation der Personalmangel mit Schuld sei. Das spricht dafür, die Bahnen automatisch fahren zu lassen.“
EXPRESS.de: 2023 wurde viel über die Preise von Anwohnerparkplätzen diskutiert...
Jürgen Becker: „...die hier zu günstig sind. Man muss ja bedenken, dass man für jedes Auto 1,8 bis 2,8 Tonnen wertvolle Rohstoffe und Stahl für eine durchschnittliche Lebensdauer von nur 15 Jahren schmilzt und presst, um dann damit durchschnittlich 80 Kilogramm welkes Fleisch zu transportieren. Hinzu kommt, dass die Autos dann über 23 Stunden am Tag ungenutzt herumstehen, und das auf einem sehr teuren Grundstück – das ist betriebswirtschaftlich grober Unfug.“
EXPRESS.de: In der Deutzer Freiheit klappte das noch nicht mit der Fußgängerzone – da haben die Geschäftsleute erfolgreich protestiert. Verständnis dafür?
„Ich habe mir die Freiheit autofrei angeguckt und fühlte mich von der Schäl Sick regelrecht eingeladen. Die autofreie Freiheit war eine schöne Geste, die sagte: ‚Kommt doch mal rüber.‘ Es ist alles eine Sache der Gewöhnung und Anpassung. Auf der Schildergasse beschwert sich auch niemand mehr, dass man nicht mit dem Auto zu Douglas kann. Aber so ist das heute – Veränderungsprozesse verhaken sich schnell in juristischen Fallstricken und Einzelinteressen. Alle Fahrräder stehen still, wenn der Friseur es will.“
Kölner Kabarettist über den kölschen „Jammerlappen-Jam“
EXPRESS.de: Wir sind hier an der Riesenbaustelle Bonner -/Schönhauser Straße, ein Wirrwarr an roten Baustellen-Barken. Gefühlt sind wir hier Weltmeister im Barken-Verschieben. Wie sehen Sie das?
Jürgen Becker: „Es nervt schon sehr, aber grundsätzlich ist die Verlängerung der Stadtbahn über die Bonner Straße sinnvoll, und es ist gut, keine U-Bahn zu bauen. Sonst heißt Köln zukünftig nur noch ‚Einstürzende Neubauten.‘“
EXPRESS.de: „Aber es dauert in Köln oft länger als anderswo?“
Jürgen Becker: „Ja.“
EXPRESS.de: Woran kann das liegen?
Jürgen Becker: „Ganz einfach: Die Briten haben Köln im Zweiten Weltkrieg so lange bombardiert, bis hier nichts mehr funktioniert hat. Dann haben sie uns geholfen, die Stadtverwaltung aufzubauen, damit es so bleibt.“
EXPRESS.de: Wenn sich Kölsche treffen, wird schnell gejammert. Ist das kölsche Eigenschaft?
Jürgen Becker: „Es wird mehr gejammert, vor allem von denen, denen es gut geht. Und bei fast jeder Jammerlappen-Jam heißt der Refrain: ‚Die Politik muss liefern.‘ Ja, muss sie. Aber wir Kölschen müssen auch liefern. Tommi Engel singt: ‚Du bes Kölle‘. Das heißt auch: Jeder kann etwas beitragen und überlegen, wo er sich einbringen kann. Und ich gestehe selbstkritisch: Viele Fehler, die die Politik macht, hätte ich vielleicht auch gemacht.“
EXPRESS.de: Welchen zum Beispiel?
Jürgen Becker: „Ich habe bei Oper und Schauspielhaus auch nicht für einen Neubau, sondern für die Sanierung plädiert, weil ich dachte, das sei günstiger, nachhaltiger und dass man Respekt vor der Architektur der 50er Jahre haben soll. In dem Fall war das Quatsch!“
Und weiter: „Man hätte mit den über 900 Millionen, die die Opern-Sanierung jetzt kosten soll, in Deutz, da wo jetzt die Ellmühle steht, ähnlich wie die Hamburger Elbphilharmonie, einen großen Kultur-Leuchtturm bauen sollen, mit einer Aussichtsplattform obendrauf, für alle frei zugänglich. Benannt nach Ludwig Sebus: ‚Lurste vun Düx noh Kölle, vom Zauber beste platt...‘“
EXPRESS.de: Welche Probleme nehmen wir von 2023 mit nach 2024?
Jürgen Becker: „Die hohen Mieten sind heute das, was früher die Stadtmauern waren, sie bestimmen, wer hier rein darf und wer nicht. Es geht doch nicht, dass eine Krankenschwester, die in Köln arbeitet, nach Quadrath-Ichendorf ziehen und jeden Tag pendeln muss, weil sie sich ihre Heimat nicht mehr leisten kann. Wir müssen 2024 ein vernünftiges Programm gegen Wohnungsnot und Obdachlosigkeit starten, ähnlich wie das ‚Hundert Millionen Programm‘ unter Theo Burauen 1971, das 20.000 Sozialwohnungen schuf und die Obdachlosigkeit in unserer Stadt überwunden hat.“
Der große Jahresrückblick mit Markus Becker: „Müssen die Gesellschaft verteidigen“
EXPRESS.de: Worauf freuen Sie sich persönlich im neuen Jahr?
Jürgen Becker: „Auf mein neues Programm „Deine Disco“, das ich mit Dietmar Jacobs und Mike Herting, dem ehemaligen Leiter der WDR Big Band, geschrieben habe, und mit dem ich am 13. April im Tanzbrunnen bin.“
EXPRESS.de: Ungewöhnlicher Titel für ein Kabarettprogramm. Worum gehts?
Jürgen Becker: „Mir fiel auf, dass ohne die revolutionäre Erfindung der E-Gitarre die Geschichte wohl anders verlaufen wäre: So hatten die 68er ihren Jimi Hendrix, die Hippies ihre Janis Joplin, die Hausbesetzer die Fööss und ‚In unserm Veedel‘, die Friedensbewegung die Bots & BAP und die Frauenbewegung Ina Deter. Es ist letztlich der Soundtrack, die eine Bewegung erfolgreich macht.“
Und weiter: „Die Klimabewegung ist ohne eigenen Sound und droht deswegen zu verlieren. Das analysiere ich in einer mitreißenden Radioshow, man taucht satirisch tief in die Soundfiles der bewegten Jugend und rettet damit vielleicht sogar die Zukunft: Follow the Science. Doch vergesst die Emotionen nicht!“
EXPRESS.de: War 2023 eigentlich ein gutes Jahr für Kabarettisten?
Jürgen Becker: „Sagen wir so: Es hat uns auch vor eine neue Aufgabe gestellt. Die Rechtspopulisten erstarken besorgniserregend, das hat Folgen auch für meine Branche. Wir Satiriker müssen uns 2024 von der Attitüde verabschieden, eigentlich gegen die Gesellschaft zu sein. Jetzt müssen wir sie verteidigen! Unseren Rechtsstaat, unsere Demokratie, unsere Freiheit.“
EXPRESS.de: Gar keine Kritik mehr?
Jürgen Becker: „Natürlich müssen wir weiter den Finger in die Wunden der Zeit legen und zeigen, was besser laufen könnte. Aber wir müssen mit Respekt sehen, was die Menschen in politischer Verantwortung für ein enormes Pensum vor der Brust haben. Die Probleme häufen sich so massiv, wie wir das in der Geschichte der Bundesrepublik noch nie erlebt haben.“
Jürgen Becker sagt weiter: „Wir dürfen uns daher nicht mit den Populisten gemein machen, die sagen: ‚Du kannst sie alle in einen Sack stecken und draufhauen, du triffst immer die Richtigen.‘ Oder wie es Sarah Wagenknecht sagt: ‚Wir haben die dümmste Regierung der Welt.‘ Diese Phrasen lassen befürchten: 2024 bekommen wir mit ihr eine prorussische AfD-light mit 30 Prozent weniger Hitler. Aber lassen wir uns überraschen.“