Experte über Türkei-Wahl in Köln„Das hat Parallelen zu Putin-Anhängern“

Wählerinnen und Wähler geben im Türkischen Generalkonsulat ihre Stimme für die Parlaments- und Präsidentenwwahl ab.

Wählerinnen und Wähler geben am Donnerstag (27. April) im Türkischen Generalkonsulat ihre Stimme für die Parlaments- und Präsidentenwahl in Hürth ab.

In NRW hat am Donnerstag die Türkei-Wahl begonnen. Bis zum 9. Mai können rund eine halbe Million Menschen ihre Stimme abgeben, über 50.000 sind es in Köln. Doch warum ist es ausgerechnet Erdogan, der von so vielen gewählt wird? Ein Experte klärt auf.

von Martin Gätke  (mg)

Bei der letzten Wahl 2018 hatten rund 65 Prozent der Türkinnen und Türken in Deutschland für Erdoğan gestimmt, damit schnitt er hierzulande besser ab als in der Türkei, wo er insgesamt 53 Prozent holte. Und auch in diesem Jahr wird Erdogan in Deutschland, vermuten Fachleute, besser abschneiden als in der Türkei.

Warum das so ist und wie Erdogan in Deutschland auf Stimmenfang geht, erklärt Eren Güvercin. Der Journalist ist Mitbegründer der Alhambra-Gesellschaft, ein Zusammenschluss moderat konservativer sowie liberaler deutscher Muslime.

Herr Güvercin, gehen Sie davon aus, dass die AKP auch 2023 wieder viele Stimmen holen wird?

Eren Güvercin: Am 14. Mai finden in der Türkei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Aber da aufgrund der Verfassungsänderung 2017 das Parlament massiv an Bedeutung verloren hat, fokussiert sich alles auf die Präsidentschaftswahlen. Nach den Umfrageergebnissen wird Erdogans AKP im Parlament die stärkste Fraktion werden. Aber im Rennen um die Präsidentschaft liegt er in den meisten Umfragen knapp hinter dem Kandidaten des Oppositionsbündnisses Kilicdaroglu. Über 40 Prozent wird Erdogan allerdings sicher bekommen.

Warum wählen so viele Menschen in Deutschland und damit auch in Köln eigentlich ausgerechnet Erdogan?

Güvercin: In der Tat ist die Zustimmung für Erdogan in Deutschland wesentlich höher als in der Türkei. Bei der letzten Wahl wählten über 60 Prozent in Deutschland Erdogan. Ich gehe davon aus, dass auch bei dieser Wahl Erdogan in Deutschland besser abschneiden wird als in der Türkei.

Erdogan hat in den letzten 20 Jahren viel in die Diasporapolitik investiert. Das wurde kaum bei uns wahrgenommen. Erdogan hat einen emotionalen Zugang zu den Menschen gefunden und hat sich geschickt als Fürsprecher für die Rechte und Bedürfnisse der Türkeistämmigen in Deutschland inszeniert. Dabei instrumentalisiert er mit nationalistischer und populistischer Rhetorik Diskriminierungserfahrungen für seine politische Agenda. Er bezeichnet sich immer als Sprecher aller Unterdrückten und Entrechteten.

Eren Güvercin

Eren Güvercin studierte Rechtswissenschaften in Bonn und arbeitet als freier Journalist und Autor für verschiedene Medien.

Die Türkeistämmigen in Deutschland sind für Erdogan eine Verfügungsmasse, die er für seine machtpolitische Agenda nutzbar macht. Er klagt die Doppelmoral des Westens an, schürt Ressentiments unter hier lebenden Türken gegenüber der deutschen Gesellschaft und trichtert ihnen ein, dass ‚die Deutschen‘ oder ‚der Westen‘ die Türken oder Muslime nie anerkennen und gleich behandeln werden. Er vermittelt den Menschen, dass er als großer Bruder immer für sie einstehen wird.

Er gibt den Menschen das Gefühl, dass sie als Türken in Deutschland eine besonders wichtige Rolle haben. Das wird von vielen als Wertschätzung wahrgenommen. Endlich jemand, der unseren Rücken stärkt und auf den Verlass ist.

Hier bei unserer Umfrage mitmachen:

Wie schafft es die AKP, so viele Menschen hierzulande zu erreichen und zu beeinflussen? Und das, obwohl große Wahlkampfveranstaltungen ausländischer Politiker in Deutschland eigentlich verboten sind?

Güvercin: Der AKP war sehr früh klar, dass die Wahl diesmal besonders knapp ausfallen wird. Erdogan steht mit dem Rücken zur Wand. Die hohe Inflation, die Wirtschaftskrise, die Erdbebenkatastrophe und die generelle Unzufriedenheit in der Gesellschaft hat ihn in die Ecke gedrängt. Daher können die Wählerstimmen in Europa und insbesondere in Deutschland mit 1,4 Mio. Wahlberechtigte eine Schlüsselrolle spielen.

Deswegen hat Erdogan sehr früh mit dem Wahlkampf in Deutschland und Europa angefangen. Seit September waren über 150 AKP-Abgeordnete, Minister und Bürgermeister auf Wahlkampftour. Oft in Moscheegemeinden der DITIB und IGMG [Islamische Gemeinschaft Millî Görüş, Anm. d. Red.], aber auch bei Kulturvereinen und Unternehmerverbänden. Die AKP und ihre Lobbyorganisation Union Internationaler Demokraten (UID) hat einerseits darauf geachtet, nicht unnötig öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, aber an die gesetzlichen Regelungen haben sie sich kaum gehalten.

Und solange niemand etwas dagegen unternimmt, macht man im Stillen einfach weiter. In den letzten Wochen sind in vielen Städten AKP-Wahlkampfteams verstärkt unterwegs. Sie machen in Vierteln mit starker türkischen Bevölkerung Haustürwahlkampf, besuchten im Fastenmonat Ramadan Moscheegemeinden etc. Auch wenn es öffentlich kaum wahrgenommen wurde, führt die AKP diesmal ihren intensivsten Wahlkampf in Deutschland. Sie wissen, dass es um alles geht.

Türkei-Wahl in Deutschland: „DITIB-Gemeinden mutierten zu AKP-Filialen“

Wie sieht der Wahlkampf der Opposition, der CHP, in Deutschland aus?

Güvercin: Auch die CHP oder die HDP führen Wahlkampf in Deutschland, aber sie haben nicht im Ansatz die Möglichkeiten der AKP. Sie haben nicht die finanziellen Ressourcen wie die AKP. Und die AKP kann natürlich auf Strukturen wie die DITIB mit über 900 Moscheegemeinden in Deutschland zurückgreifen.

In den letzten Monaten mutierten DITIB-Gemeinden zu AKP-Filialen, wo AKP-Politiker ein- und ausgingen. Nach außen präsentiert sich die DITIB als eine vermeintlich politisch neutrale Religionsgemeinschaften, aber durch die direkte Kontrolle durch den türkischen Staat ist die DITIB alles andere als eine Religionsgemeinschaft.

Diese Verblendung und Realitätsferne hat Parallelen zu Putin-Anhängern oder Querdenkern.
Eren Güvercin

Wie würden Sie denn aktuell die Stimmung der türkischen Community hier in Deutschland und in Köln beschreiben? Sind die Kritik-Punkte, also die hohe Inflation oder die schlechte Krisenbewältigung in der Türkei, überhaupt ein Thema? Wie kritisch wird Erdogan heute gesehen?

Güvercin: Es gibt natürlich auch in Deutschland immer mehr kritische Stimmen, die die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung in der Türkei mit Skepsis verfolgen. Aber man muss schon konstatieren, dass immer noch beträchtliche Teile der Türkeistämmigen in Deutschland Erdogan verehren. Dieser Personenkult und die Indoktrination durch Erdogans Propaganda hat diese Menschen regelrecht verblendet.

Sie sind überzeugt, dass sie unter der Führung von Erdogan auf einer heiligen Mission sind. Die hohe Inflation und die Krisen sind allesamt Machenschaften und Verschwörungen dunkler Mächte, um den Aufstieg der Türkei zur Weltmacht zu verhindern. Diese Verblendung und Realitätsferne hat etwas Sektiererisches und hat Parallelen zu Putin-Anhängern oder Querdenkern.

Türkei-Wahl in Deutschland: „Erdogan schürt Ressentiments gegenüber Demokratien“

Wie „antiwestlich“ ist die Stimmung denn unter der AKP-Anhängerschaft wirklich? Wie wird Deutschland denn gesehen?

Güvercin: Erdogan und große Teile der türkischen Medien, die von der AKP kontrolliert werden, schüren mit Verschwörungsmythen seit langen Jahren Ressentiments gegenüber den Demokratien im Westen. Sie vermitteln ein klares Weltbild mit eindeutigen Feindbildern. Diese Propaganda findet nicht nur in der Türkei statt, sondern erreicht auch hier Teile der türkischen Community.

Was kann die Bundesregierung tun, um die türkische Community nicht zu „verlieren“ und besser zu unterstützen?

Güvercin: Wir haben als Gesellschaft und Politik lange Zeit ignoriert, wie aktiv Erdogan und seine Strukturen hier in unsere Gesellschaft einwirken. Genauso wie wir bei Putin bestimmte Realitäten ignoriert haben oder nicht sehen wollten, haben wir auch Erdogan unterschätzt und uns kaum dafür interessiert, über welche Kanäle und Strukturen er das gesellschaftliche Leben hier bei uns beeinträchtigt.

Erdogan und sein Handeln zu kritisieren, reicht aber nicht aus. Wir als Gesellschaft und vor allem die Politik muss sich die unangenehme Frage stellen, warum Erdogan es schafft, diese Menschen emotional zu erreichen und sie mit einem identitär-nationalistischen Weltbild für sich zu gewinnen, und warum wir es nicht schaffen, diesen Menschen, die hier mit uns leben, die Werte einer liberalen Demokratie zu vermitteln.

Oft beschäftigen wir uns mit diesen Menschen nicht, oft fehlt uns der Zugang, aber oft ist auf unserer Seite gar kein Interesse da. Wir haben bei dem Wettbewerb um die Herzen und Köpfe dieser Menschen versagt. Das sollten wir uns klarmachen. Und vor allem sollten wir Erdogans Agitation endlich etwas entgegensetzen.