Die neuerliche Entwicklung in der Antarktis in diesem Jahr sorgt bei vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern für große Sorgen: Das Eis schrumpft immer weiter, befindet sich auf einem historischen Tiefstand. Das könnte dramatische Folgewirkungen haben.
„Mache mir wirklich Sorgen“Seltsame Entdeckung in der Antarktis: Forschende stehen vor Rätsel
Jeden Morgen um kurz nach 4 Uhr bekommt Will Hobbs die E-Mail in sein Postfach – und jedes Mal bekommt der Meereisforscher der Universität von Tasmanien dieselbe bittere Nachricht: Die Mail enthält die neuesten Daten eines Satelliten der US-Regierung, der misst, wie viel Meereis aktuell in der Antarktis zu finden ist. Noch nie schwamm so wenig Eis in der Region wie in diesem Jahr.
„Das Wort ‚beispiellos‘ wird oft benutzt, aber es beschreibt nicht wirklich, wie schockierend das alles ist“, erklärt Wissenschaftler Hobbs. Normalerweise gäbe es aktuell in der Antarktis etwa 16,4 Millionen Quadratkilometer Eis. Doch in der vergangenen Woche waren es nur 14,1 Millionen Quadratkilometer. Das heißt: Eine Eisfläche, größer als Mexiko, fehlt. Forscherinnen und Forscher sind beunruhigt – und stehen gleichzeitig vor einem Rätsel.
Antarktis: Eis auf historischem Tiefstand
Bereits Anfang des Jahres hat das schwimmende Meereis rund um die Antarktis einen Tiefstand erreicht: Nie wurde weniger Eis gemessen, seitdem Satelliten seit 1979 regelmäßig ihre Sensoren und Kameras auf die Region richten.
Zwar begann das Meereis im südlichen Winter (ab April) wie in jedem Jahr zurückzukehren, als die Temperaturen sanken – doch wesentlich weniger als sonst. Viele Forschende sind nun besorgt über diese Entwicklung und befürchten, dass sie den Beginn eines langsamen Zusammenbruchs des Systems erleben.
„Man hat das Gefühl, dass etwas Seltsames vor sich geht. Es liegt weit unter dem, was wir in unseren Aufzeichnungen gesehen haben“, erklärt Walter Meier, leitender Wissenschaftler am National Snow and Ice Data Center (NSIDC) der University of Colorado, gegenüber dem britischen „Guardian“. „Bezogen auf den Normalwert liegen wir sogar noch weiter hinter dem Niveau vom Februar“, erklärt der Wissenschaftler weiter.
Antarktis: „Etwas Seltsames ist im Gange“
Während sich das Treibeis in der nördlichen Arktis so verhält, wie es Klimamodelle in einer sich allmählich erwärmenden Welt erwartet haben, ist das Meereis in der Antarktis bis zum Jahr 2016 stabil geblieben. Doch dann änderte sich etwas: Nur zwei Jahre nach einem Rekordhoch wurde ein Rekordtief gemessen, seitdem gehen die Messwerte steil nach unten. Forschende stehen vor einem Rätsel.
Dr. Andrew Meijers, Ozeanograf beim British Antarctic Survey, sagt, viele Forschende vermuten, dass die Rückgänge seit 2016 zeigten, dass der Klimawandel „die natürlichen Barrieren um das Meereis, die durch den einzigartigen Wind gebildet wurden, durchbrochen hat“. Denn das Meereis wird von riesigen Ozeanen umgeben und wird von vielen Faktoren beeinflusst: Winden, Stürmen, Lufttemperaturen, dem Salzgehalt und der Art und Weise, wie sich verschiedene Schichten des Ozeans vermischen.
Antarktis: Man hat das Gefühl, dass in diesem Jahr etwas Großes passiert
„Insgesamt hat man das Gefühl, dass in diesem Jahr etwas Großes passiert, und das hängt wahrscheinlich mit dem allgemeinen Rückgang seit 2016 zusammen“, erklärt der Ozeanograf. Die Gewässer rund um die Antarktis seien seltsam unruhig.
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Die oberen Ebenen des Meeres sind geschichtet – eine kühlere und weniger salzige Schicht oben und eine wärmere, dichtere Schicht ab etwa 150 bis 300 Metern. Eine Theorie für das fehlende Meereis: Es gibt Hinweise darauf, dass kurz vor dem Rückgang des Eises die obere Schicht salziger wurde und sich mit der unteren Schicht vermischte, wodurch das wärmere Wasser an die Oberfläche gelangen konnte. Die Bildung von Eis wurde erschwert.
Fehlt das Antarktis-Eis, hätte das gravierende Folgen: Weniger Eis bedeutet, dass weniger Sonnenenergie reflektiert wird. Der Ozean erwärmt sich noch stärker, mehr Eis schmilzt. Das wiederum führt zu einem weltweiten Anstieg des Meeresspiegels.
„Ich mache mir wirklich Sorgen“, erklärt Wissenschaftler Will Hobbs. „Wenn es sich um einen funktionalen Zusammenbruch des Systems handelt – und das ist ein großes Problem – würde das bedeuten, dass wir unsere Meeresspiegelprognosen überdenken müssen, und das betrifft viele Menschen.“