„Das war Krieg"Amok! 1994 starben im Amtsgericht sieben Menschen

So sieht es im Film aus: Im Gerichtssaal hört sich Erwin Mikolajczyk (Christoph Waltz) seine Verurteilung an. Seine Ex-Freundin Lena (Tamara Kafka, li.) ist in Begleitung ihrer Freundin Annette Klotz (Renate Becker) gekommen.

Euskirchen – Er liebte Waffen und perversen Sex.

Am 9. März 1994 starb Erwin Mikolajczyk mit einem Donnerschlag. Der 39-Jährige Heiz- und Kesselwerker bombte sich im Amtsgericht Euskirchen aus dem Leben. Aber erst, nachdem er sechs andere Menschen kaltblütig erschossen hatte.

Mikolajczyk war als Angeklagter vor Gericht erschienen. Seine Ex-Freundin hatte ihn angezeigt: Nachdem sich die Jugoslawin geweigert hatte, Mikolajczyks Sex-Wünsche zu befriedigen und Gummistiefel zu tragen, hatte er die 56-Jährige brutal verprügelt.

Die Staatsanwaltschaft wollte die ganze Angelegenheit mit einem Strafbefehl erledigen. Doch Mikolajczyk will nicht zahlen. So kam es zur Verhandlung vor Dr. Alexander Schäfer (31), dem jüngsten der 18 Euskirchener Amtsrichter.

Bizarr: Mikolajczyk trug im Gerichtssaal ein aus Knoblauch gebundenes Kreuz, Lackmantel und Gummistiefel. Schäfer verurteilte Mikolajczyk zu 7200 Mark Geldstrafe .

Das war kurz vor 13 Uhr. Mikolajczyk wartete erst gar nicht die Urteilsbegründung ab, sondern stürmte auf den Gerichtsflur. Seine Ex-Freundin brüllte noch: „Der schießt um sich!“ Da brach Richter Schäfer, der über ein Telefon Hilfe rufen wollte, tot zusammen. Getroffen von zwei Schüssen in den Hals.

Auch die 56-Jährige, ihre Mutter, eine Freundin, ein Zeuge und ein im Flur wartender Anwalt wurden regelrecht hingerichtet.

Danach zog der Amokläufer einen Sprengsatz aus seinem schwarzen Rucksack, der sogleich explodierte. Mikolajczyk wurde durch ein Fenster ins Freie geschleudert, war sofort tot. Innerhalb von nur einer Minute – 12.53 bis 12.54 Uhr – hatte er sieben Leben ausgelöscht.

Das Amok-Drama wurde 1995 mit Oscar-Preisträger Christoph Waltz (57) als Amokläufer verfilmt. Am Montag gedenkt das Team des Amtsgerichts der Opfer vom 9. März 1994 mit einer Schweigeminute.

Ein Mann, der an diesem Tag unsagbares Glück hatte, aber doch eng betroffen war, ist der ehemalige Gerichtsdirektor Erhard Väth. Dem EXPRESS hat der 79-Jährige erzählt, wie sehr ihn der Amoklauf auch 20 Jahre später noch immer beschäftigt.

Gerichts-Chef: „Das war Krieg"

Der ehemalige Gerichtsdirektor hat sich schick gemacht für seinen Termin mit dem EXPRESS: blauer Anzug, Krawatte. Erhard Väth (79) blättert in einem Ordner mit Artikeln. Alle zum Amoklauf im Amtsgericht, einer sogar aus dem „San Francisco Chronicle“.

Mein Sohn lebt in den USA. Er hat mir damals diesen Bericht geschickt“, erinnert sich der Gerichtsdirektor a.D.

Am Tag des Amoklaufs hatte der Richter unglaubliches Glück: „Ich hatte einen Termin außerhalb“, so Väth. „Ich bekam die Meldung, dass eine Bombe detoniert ist, bin direkt hin. Die Fahrt war dramatisch, weil im Rundfunk ständig Nachrichten kamen und die Zahl der Opfer sich erhöhte. Es war schrecklich.“

Das Grauen ging weiter, als Väth in Euskirchen eintraf: In einer Wand der Nebenstelle des Gerichts klaffte ein riesiges Loch. Im Erdgeschoss wurde damals Recht gesprochen, in der ersten Etage saß ein Zahnarzt, darüber die Ausbildungskanzlei des Gerichts.

Väth: „Da arbeiteten 12 oder 15 Auszubildende. Sie mussten über die Toten steigen, um rauszukommen.“ Kurz wackelt die Stimme des 79-Jährigen: „Sechs Unschuldige, die mit der Sache mehr oder weniger nichts zu tun hatten.“

Viele seiner Mitarbeiter hätten nach dem Anschlag über Kündigung nachgedacht: „Ich habe zehn Tage lang Gespräche geführt, die Bediensteten waren sehr verunsichert.“Auch mehr als zehn Jahre nach seiner Pensionierung hat er noch Kontakt zu Kollegen von damals.

Väth: „Ich habe kürzlich mit einem Anwalt gesprochen, der nur überlebte, weil die Waffe Ladehemmung hatte.“ Er selbst habe gut verarbeitet: „Ich habe aber auch Kriegserinnerungen. Jüngere Kollegen waren sehr beeindruckt. Und das war Krieg, um es richtig auszudrücken.“

Noch in der Nacht des Amoklaufs habe er die Eltern des getöteten Richters im Siegerland besucht: „Dr. Schäfer stammte aus einer Bauernfamilie. Er war das älteste von sechs Kindern. Der einzige, der studiert hatte. Die Mutter war wie eine versteinerte Salzsäule, keine Träne, kein Ton. Ein solcher Anblick ist das Bedrückendste, was es gibt. Ich werde es nie vergessen.“

Nachts um vier erst kehrte Väth zu seiner Frau heim. „Bedienstete hatten sie informiert, dass ich nicht direkt betroffen war. Trotzdem war sie kreidebleich und zitterte am ganzen Körper.“ Die Trauerarbeit sei sehr intensiv gewesen: „Die Trauerfeier und die Anteilnahme der Bevölkerung haben sehr dabei geholfen.“