Dass seine Heimatstadt Zürich seine Kunst, die er ihr einst an die Wände sprühte, als Schmierereien abtat, hat Harald Naegeli tief getroffen. Zu seinem 85. Geburtstag gibt er sich versöhnlich.
Graffiti-KünstlerVerurteilt und gefeiert: Der „Sprayer von Zürich“ zum 85.
Für Harald Naegeli ist die Sache eigentlich klar: Manche verkennen einfach sein Genie. Zum Beispiel die Beamten in seiner Heimatstadt Zürich, die seinen Kunstwerken immer mit Putzkolonnen und ihm selbst mit Anklagen zu Leibe gerückt sind. Naegeli, der Ende der 70er Jahre als „Sprayer von Zürich“ berühmt wurde, gibt sich zu seinem 85. Geburtstag milde: „Das Alter macht versöhnlich“, sagt er der Deutschen Presse-Agentur. „Es ist doch die Aufgabe im Alter, schlechte Gedanken zu verbannen.“
Naegeli gilt als „wichtigster Initiator der europäischen Street Art“ - und so sieht er sich auch selbst. Er hat Figuren aller Art an Hauswände gesprüht, nicht nur in Zürich, auch in Düsseldorf, wo er Jahrzehnte lebte. Aber auch in Frankfurt, Köln, Wismar und anderen Städten. In Zürich wurde er viele Jahrzehnte verschmäht, in Deutschland hingegen wie ein Popstar gefeiert.
Fische und Totenköpfe
Sein Repertoire umfasst Strichfiguren, Skelette, Totenköpfe, Fische, Riesenvögel, blutsaugende Wanzen, Einäugige und vieles mehr. Er wollte die Menschen auf offener Straße überrumpeln und zum Nachdenken bringen, ein Zeichen setzen gegen Naturzerstörung und Betonwüsten.
Die Graffiti an den Hauswänden spielen oft mit den Gegebenheiten: ein Strichmännchen etwa, das aus einem Wasserhahn pinkelt oder Skelette, die sich gegen Wände zu stemmen scheinen. „Ich habe das Gen eines Höhlenzeichners in mir, das sich aus der prähistorischen Zeit erhalten hat“, sagte er einst zu Res Strehle. Der Schweizer Journalist hat ihm mit einer liebevollen Biografie „Nur Fliegen kann er nicht“ gerade ein Denkmal setzt.
Ein Herz für Tiere
Inzwischen sitzt der einstige Schreck der Obrigkeit im Atelier seiner geerbten Jugendstilvilla in Zürich zwischen hunderten seiner Werke und arbeitet vor allem drinnen. Für nächtliche Graffiti-Touren fehlt ihm die Kraft. Eine Krebserkrankung hat ihn hager gemacht, Parkinson schüttelt seine Arme, aber sobald er den Stift in die Hand nimmt, wird sie ganz ruhig und er zeichnet. Vor allem seine Besucherinnen und Besucher - oder deren Hunde. Tiere sind eines seiner Lieblingssujets.
Dass es dem Lebensende entgegengeht, ist für Naegeli kein Problem. „Ich bereite mich auf den kommenden Tod vor“, verrät er der dpa. Er hat eine Stiftung gegründet, die seine hinterlassenen Werke verkaufen und das Geld für den Tierschutz spenden soll.
Dass seine Heimatstadt die „Kunstgeschenke“, die er ihr einst an die Wände sprühte, als Schmierereien und Sachbeschädigung abtat und wegputzen ließ - Naegeli hat das tief gekränkt. An seinem eigenen Haus, das er erst spät erbte, hat er zwar auch schon einmal Graffiti wegwischen lassen, räumt er ein. Aber er sah - anders als bei seinen eigenen Werken - keine Kunst darin. „Aber Strafanzeige habe ich nicht erstattet“, betont er.
Wut und Ruhm
Die Stadt und Immobilienbesitzer in Zürich taten dies schon, so kam es in den 80er Jahren zum Prozess mit Schuldspruch. Naegeli floh daraufhin nach Deutschland. Die Schweizer ließen ihn dort mit internationalem Haftbefehl festnehmen. Er musste seine Gefängnisstrafe in der Schweiz absitzen. Manchmal blitzt bei aller Altersmilde noch heute Wut darüber durch. Aber dann stellt Naegeli verschmitzt fest: „Ohne diesen Widerstand hätte ich nicht so eine Resonanz gehabt. Es hat meinen Ruhm vergrößert.“
Zu Naegelis Werk gehören auch hunderte Wolkenbilder. Sie bestehen aus unzählige winzigen Punkten und Strichen, wie schwebende Partikel, die Leinwände haben kein oben und kein unten: „Die Energie geht nach allen Seiten“, sagt er. Es sei die „konzeptuelle Idee der Utopie einer unendlichen Ausdehnung“, wird Naegeli bei Ausstellungen zitiert. Auf der Rückseite der Werke dokumentiert er die Entstehung mit Datum, Gedanken und kleinen Zeichnungen - fast eine neue Kunstgattung. Einige Dutzend davon befinden sich In der Graphischen Sammlung am Kunsthistorischen Institut der Universität Tübingen.
Der Totentanz
In den 2000er Jahren unternimmt Naegeli einen letzten Versuch, sich in seiner Heimatstadt zu verewigen - dieses Mal ganz legal. Er will in den Turmaufgängen des altehrwürdigen Großmünsters einen Naegeli'schen „Totentanz“ sprayen. Nach jahrelangem Gezerre, einem eigens aufgetragenen Schutzlack und genau abgeklebten und zugewiesenen Spray-Flächen macht er sich 2018 ans Werk.
Aber es geht nicht gut. Die mit rasantem Schwung aufgetragenen Figuren sprengen um ein paar Zentimeter den abgesteckten Rahmen. Weil seine „Grenzüberschreitung“ nicht geduldet wird, schmeißt er hin. Das Kunstwerk bleibt unvollendet, die dritte Figur im Aufgang einbeinig, wie Strehle in der Biografie schreibt.
Naegeli behielt die Schlüssel zu den Türmen, wollte später heimlich zurückkehren und sein Werk vollenden. Doch vergeblich: die Großmünster-Herren hatten die Schlösser in weiser Voraussicht auswechseln lassen.
Rund 50 Jahre nach den ersten Graffiti in Zürich kommt es 2020 doch zu einer Art Versöhnung mit dem unbequemen Sohn der Stadt: Zürich verleiht ihm den großen Kunstpreis. (dpa)