1819 in DeutschlandWie ein Verbrechen den politischen Terrorismus begründete
Mannheim – Pfingstsamstag, 20. Mai 1820. Tausende Menschen – teils von weither – drängen sich am frühen Morgen an der Richtstätte, als der zum Tode verurteilte protestantische Theologiestudent Carl Ludwig Sand eintrifft.
Der 24-Jährige lächelt den Menschen freundlich zu, die ihm Lebewohl zurufen. Seelenruhig besteigt er das Schafott. Wenig später trennt der Henker mit zwei wuchtigen Schwerthieben Sands Kopf vom Rumpf und zeigt ihn den Zuschauern.
Carl Ludwig Sand erdolchte August von Kotzbue
Ein Jahr zuvor hatte der junge Mann in Mannheim den 57-jährigen Schriftsteller August von Kotzebue erdolcht – und die Tat damit gerechtfertigt, im Namen des deutschen Volkes gehandelt zu haben. Ein Mord, der er in ganz Europa für Aufsehen sorgte. Für viele Experten war es das erste politische Attentat der deutschen Geschichte.
Am Nachmittag des 23. März 1819 hatte Sand, dem unter einem Vorwand der Einlass in das Haus Kotzebues gewährt worden war, den Schriftsteller und einstigen Staatsrat in Diensten des russischen Zaren mit den Worten „Hier, du Verräther des Vaterlandes“ mit einem Stich ins Herz getötet.
Goethe führte August von Kotzbues Werke auf
Der heute weitgehend vergessene Dichter war damals überaus populär, erfolgreicher als seine Zeitgenossen Goethe und Schiller. Mehrere Dutzend Stücke von seinen 200 Werken hat Goethe, der Kotzebue eigentlich nicht mochte, am Weimarer Hoftheater aufgeführt.
In den Augen patriotisch gesinnter Männer wie Sand war er aber vor allem eines – ein verhasster Spion und Vaterlandsverräter. Denn Kotzebue schrieb für seinen früheren Arbeitgeber, den Zaren, gut honorierte Geheimdossiers über die politische Lage und Stimmung in Deutschland.
Sand wurde kurz nach dem Mord schwer verletzt festgenommen. Er hatte sich den Dolch in die Brust gestochen, als plötzlich Kotzebues Sohn (4) im Türrahmen erschienen war.
Wer war Carl Ludwig Sand?
Wer war dieser Sand, der 1795 im bayrischen Wunsiedel geboren worden war? Er gehörte zu einer wachsenden Gruppe von meist jungen, patriotisch denkenden Studenten, die sich in der Zeit der Befreiungskriege gegen den verhassten Aggressor Napoleon radikalisiert und nach dem Sieg über den französischen Kaiser auf mehr Freiheit gehofft hatten.
Darunter durchaus Besonnene, aber auch sehr viele Wirrköpfe – mit teils kruden Vorstellungen von einem deutschen Vaterland, in der alles Fremde keinen Platz haben sollte – inklusive der Juden.
Carl Ludwig Sand war Mitglied einer Studentenbewegung
Keimzellen der Bewegung waren vor allem die Burschenschaften an den Universitäten, vaterländisch tickende Schriftsteller mit ihren hasserfüllten, „völkischen“ Pamphleten, aber auch Professoren und die Sportvereine des „Turnvaters“ Jahn.
Auch modisch zeigte man gerne, wo man stand. Am liebsten trugen Burschenschaftler die „altdeutsche Tracht“ – schwarzer Rock, weite Hosen und ein Barett über langen Haaren.
Die Hoffnungen Sands und seiner Gesinnungsgenossen auf mehr Freiheit wurden bald enttäuscht. Der Wiener Kongress der Siegermächte über Napoleon restaurierte 1815 die alte feudale Ordnung. Alle nationalen und liberalen Bewegungen – auch und gerade in dem zersplitterten Deutschland – waren den Autokraten suspekt.
Carl Ludwig Sand: Hass auf „Undeutsches“
Doch die Proteste rissen nicht ab, wobei der 1761 in Weimar geborene Kotzebue immer mehr zur Zielscheibe wurde. Der war zwar ein Gegner Napoleons gewesen, aber die rebellischen Studenten mochte er ebenso wenig.
„Wenn man den Kindern Messer in die Hände gibt, so schneiden sie sich damit“, ätzte er einmal. Auf ihn projizierte sich der ganze Hass – besonders als die geheimen Dossiers an den Zarenhof publik wurden.
Wartburgfest: „Undeutsche“ Bücher werden verbrannt
Auf dem Wartburgfest im Oktober 1817, das auch Sand besuchte, gipfelte die Wut auf alles „Undeutsche“ in einer Bücherverbrennung. Attrappen von Werken missliebiger Autoren flogen ins Feuer – auch ein Werk Kotzebues.
Der Dichter bekam Morddrohungen. In einem Brief hieß es: „Fahre fort, Kotzebue, vielleicht wirst Du selbst und nicht allein Deine Schrift verbrannt.“ Als auch noch Steine durch die Fenster flogen, entschloss er sich zum Umzug nach Mannheim. Doch das rettete ihn nicht...
Carl Ludwig Sand bereute nichts
Nach dem Mord zeigte Sand keinerlei Reue. Für viele war er ein Volksheld, ein für die Freiheit gestorbener Märtyrer.
Nach seiner Hinrichtung stürzten sich Menschen aufs Schafott, tauchten Tücher oder Rockzipfel in sein Blut. Holzspäne der Richtstätte verkauften die Henkersknechte wie Reliquien zu hohen Preisen.
Zensur durch „Karlsbader Beschlüsse“
Nach Sands Tat schlugen die reaktionären Kräfte unerbittlich zu. Die im Deutschen Bund vereinigten Länder zogen die Schrauben an.
Mit den „Karlsbader Beschlüssen“ wurden alle zarten Ansätze von Presse und Meinungsfreiheit durch Zensur und Gesinnungsschnüffelei einkassiert und unerbittlich Jagd auf Aufrührer gemacht.