Gift-Anschlag auf U-BahnTeuflischer Guru steckt hinter grausamen Verbrechen
Tokio – Mit einem Giftgasanschlag auf die U-Bahn in Tokio versetzte die Endzeitsekte „Ōmu Shinrikyō“ vor 25 Jahren ganz Japan in Angst und Schrecken. Mitten im morgendlichen Berufsverkehr stachen Mitglieder der Sekte in fünf im Bahnhof Kasumigaseki einfahrenden Pendlerzügen Plastiktüten mit Sarin auf – und setzten so das tödliche Nervengas frei.
Durch das Attentat starben 13 Menschen und mehr als 6000 wurden verletzt. Die Welt war geschockt.
Gift-Anschlag auf 15 U-Bahn-Stationen
Die Dämpfe hatten sich rasant schnell in den Bahnen und in rund 15 U-Bahn-Stationen verbreitet. In Panik waren die Menschen aus den Waggons gestürzt, sie stolperten auf die Ausgänge zu, viele spuckten Blut, andere brachen zusammen, wälzten sich von Krämpfen geschüttelt auf dem Boden.
Die große Opferzahl erklärt sich dadurch, dass schon ein Milligramm der Phosphorverbindung Sarin binnen Minuten zu Atemlähmung und Herzstillstand führen kann.
Gift-Anschlag auf U-Bahn: Ärzte erkannten das Gift nicht sofort
Ferner dauerte es eine Weile, bis Ärzte in dem Chaos herausfanden, dass der Anschlag mit Sarin verübt worden war. Bei einer Sarin-Vergiftung muss Betroffenen möglichst schnell Atropin injiziert werden.
Den Befehl zu dem mörderischen Anschlag hatte der halb-blinde Sektengründer Shoko Asahara gegeben, der mit bürgerlichen Namen Chizuo Matsumoto hieß.
Asahara: Der teuflische Guru
Der 1955 auf der südjapanischen Insel Kyūshū geborene Guru hatte die Sekte Ōmu Shinrikyō (Om-Lehre der Wahrheit), die bei uns unter dem Namen Aum Shinrikyo bekannt ist, in den 80er Jahren zu einer pseudoreligiösen, streng abgeschotteten Gruppierung gemacht.
Mit den Jahren radikalisierte sie sich immer mehr und expandierte über die Grenzen Japans hinaus – mit dem Status einer staatlich anerkannten Religionsgemeinschaft.Eine Dependance gab es auch in Bonn. Rund 40.000 Anhänger soll die Sekte weltweit zum Zeitpunkt des Giftgasanschlages gehabt haben.
Asahara traf sich mit dem Dalai Lama
Ab 1987 traf sich Asahara auch regelmäßig mit dem Dalai Lama, der nichtsahnend dazu beitrug, dass der Guru und seine Sekte in der Öffentlichkeit an Ansehen gewannen und durch Spendengelder reich wurden.
Asaharas Religion – eine wirre Mixtur aus Hinduismus, Buddhismus und düsteren Prophezeiungen – diente da längst nur noch als Feigenblatt, um die wahren, kriminellen Absichten zu verbergen. Harmlose Spinner – das waren die Sektierer längst nicht mehr.
Guru Asahara prophezeite Weltuntergang im Jahr 1997
Dafür sorgte vor allem ihr bärtiger Guru, der sich als Wiedergeburt von Shiva (einer der Hauptgötter des Hinduismus) und auch von Jesus Christus sah. Asahara verlangte absoluten Gehorsam.
Er predigte, dass die Welt 1997 untergehen werde und drillte seine ihm völlig ergebenen Jünger zu einer fanatischen Terrortruppe. Was ihn letztlich dazu trieb, bleibt – bis auf seinen Hass auf die Welt außerhalb von Aum und seine kruden apokalyptischen Vorstellungen – rätselhaft.
Asahara wollte die Welt „erlösen“
Er plante nicht irgendein Attentat, sondern ein ganz großes Ding mit chemischen oder nuklearen Waffen – in seinem Wahn, die Welt mit Gewalt „erlösen“ zu können. Die Experten für die Realisierung des Attentats waren unter seinen Anhängern.
Mit studierten Naturwissenschaftlern in den eigenen Reihen – viele hatten Hochschulabschlüsse – gelang es der Sekte 1994, in den geheimen Laboren ihrer Zentren, das Nervengas Sarin herzustellen.
Gift-Anschlag: Sarin wurde von deutschen Forschern erfunden
Die Substanz hatten einst im Jahr 1938 deutsche Forscher um Gerhard Schrader bei den I.G. Farben in Leverkusen (heute Bayer) entdeckt – auf der Suche nach einem Insektenvernichtungsmittel für Blattläuse. Doch schon bald erkannten Militärs das tödliche Potenzial von Sarin, das systematisch produziert wurde.
Diktatoren wie Augusto Pinochet in Chile, Saddam Hussein im Irak und Bashar al-Assad in Syrien gehörten zu denen, die Sarin später einsetzten – mit Tausenden von Opfern. Seit 1993 darf Sarin weder hergestellt noch gelagert werden.
Der erste Anschlag schlug fehl
Das Wissen um die Substanz und ihre verheerende Effizienz nutzten die Aum-Chemiker – skrupellos und eiskalt.
Die ersten Anschläge damit verübten die Terroristen 1994. Der erste – im April auf das Tokioter Parlamentsviertel – schlug fehl, der zweite in Matsumoto im Juni desselben Jahres auf die Richter eines Prozesses, in den die Sekte verwickelt war, allerdings nicht. Sieben Menschen starben – ohne dass zunächst ein Verdacht auf die Drahtzieher fiel.
Gift-Anschlag sollte Polizeirazzia verhindern
Ein Jahr später folgte dann das Attentat auf die U-Bahn in Tokio. Mit dem Anschlag wollte die Sekte auch eine geplante Polizeirazzia gegen ihr Hauptquartier am Fuße des heiligen Berges Fuji verhindern, heißt es.
Dieses Mal kam die Polizei schnell auf die Spur Asaharas und seiner Killerbande. Sie wurden über Nacht weltweit bekannt. War es das, was Asahara bezweckt hatte?
Guru Asahara wurde zum Tode verurteilt
Innerhalb weniger Wochen wurden er und zahlreiche seiner Anhänger festgenommen und vor Gericht gestellt. Am Ende des Prozessmarathons verurteilte 2006 ein Gericht in Tokio den halb-blinden Guru und zwölf seiner Anhänger wegen des Anschlags und weiterer Morde in insgesamt 27 Fällen zum Tode – trotz erheblicher Zweifel am Geisteszustand Asaharas.
Japan gehört zu den wenigen Industrieländern, die noch an der Todesstrafe festhalten.
Guru Asahara: Tod durch den Strang
Der 63-jährige Asahara hatte während seines gesamten Prozesses geschwiegen oder Unverständliches vor sich hingemurmelt. Die Verurteilten mussten noch Jahre in ihren Todeszellen verbringen.
Am 6. Juli 2018 starben Asahara und sechs seiner Anhänger durch den Strang, die anderen sechs wurden am 25. Juli 2018 hingerichtet. „Ich denke, es ist unvermeidlich, dass wir für solche ernsten und abscheulichen Verbrechen die Todesstrafe verhängen“ sagte Justizministerin Yoko Kamikawa.
Vertreterin der Opfer bedauert die Hinrichtung des Gurus
Derartige Verbrechen dürften sich nicht noch einmal ereignen. „Die Angst, das Leid und die Trauer der Opfer und ihrer Angehörigen waren jenseits jeder Vorstellungskraft.“ Shizue Takahashi, die die Opfer vertrat, bedauerte allerdings die Hinrichtung der Terroristen: „Ich wollte, dass Experten sie befragen.“
Ihr Mann, Kazumasa Takahashi, war stellvertretender Stationsvorsteher am Bahnhof Kasumigaseki. Er starb, nachdem er versucht hatte, eine Pfütze einer klaren Flüssigkeit in einem Zug aufzuwischen. Die Behörden identifizierten die Flüssigkeit später als das tödliche Sarin. Bei vielen, die den Anschlag überlebten, hinterließ es übrigens bleibende gesundheitliche Schäden.
Aktiv blieb die Sekte auch nach Asaharas Ende – umbenannt in Aleph. Vor 13 Jahren spaltete sich unter dem Namen Hikari no Wa (Rad des Lichts) eine Fraktion ab, die sich auf die „reine Lehre“ Asaharas beruft. Beide Gruppen stehen unter strenger staatlicher Überwachung.