Folgen sind verheerendZahl der Essstörungen seit Corona dramatisch angestiegen

Zwei Jahre Pandemie hinterlassen ihre Spuren, mit fatalen Folgen, vor allem für Kinder und Jugendliche. Seit Corona ist die Zahl der Magersüchtigen und Essgestörten drastisch angestiegen und das Alter der Betroffenen immer weiter gesunken. Eine Entwicklung, die sehr dramatisch ist.

Immer mehr werden auch die psychischen Folgen der Einschränkungen durch die Corona-Pandemie sichtbar. Auch die schwere psychische Krankheit der Magersucht, die tödlich enden kann, hat durch die Pandemie zugenommen.

An Magersucht erkranken vor allem Mädchen in der Pubertät. Während der Corona-Krise ist die Zahl der Fälle gestiegen. Und Fachleute sehen noch einen weiteren besorgniserregenden Trend.

Essstörung: Teenagerin Lea leidet an Magersucht

Zehn Kilogramm hat Lea in den vergangenen Monaten zugenommen. Ein täglicher Kampf, auch emotional. Noch immer ist die große 16-Jährige dünn. Doch wenn sie in den Spiegel schaut, sie sieht etwas ganz anderes. „Weil man ein gestörtes Wahrnehmungsbild hat, hält man sich für doppelt so breit“, erzählt sie. Eigentlich habe sie sich noch nie wohl in ihrem Körper gefühlt. Und irgendwann habe sie dann heimlich immer weniger gegessen.

20 Kilogramm hatte Lea am Ende abgenommen, als sie auf die psychosomatische Station für Kinder und Jugendliche am Klinikum in Nürnberg kam. Diese hat seit Beginn der Corona-Krise zunehmend mit magersüchtigen Patientinnen wie Lea zu tun. „Es sind eineinhalb bis zweimal so viele wie vor der Pandemie“, sagt Chefarzt Patrick Nonell.

Anstieg an Patienten mit Essstörungen durch Corona

Eine ähnliche Entwicklung sieht der Bundesfachverband Essstörungen überall im Land. „Dadurch, dass die Zahlen so zugenommen haben, fehlen Therapieplätze“, sagt der Verbandsvorsitzende Andreas Schnebel, der auch die Beratungsstelle Anad in München leitet. „Auch in den stationären Einrichtungen wird es eng.“ Und er sieht noch eine andere Entwicklung: Die Patientinnen werden jünger.

Dass seit Corona mehr Jugendliche mit einer Essstörung wie Magersucht oder Bulimie behandelt werden müssen, bestätigen auch die Auswertungen von Krankenkassen unter ihren Versicherten.

Demnach stellt die DAK-Gesundheit für 2020 eine Zunahme bei den Krankenhaus-Behandlungen wegen Essstörungen von 9 Prozent im Vergleich zum Vorjahr fest, unter den 15- bis 17-Jährigen sind es sogar 13 Prozent mehr. Die KKH kommt nach eigenen Angaben auf ein überproportionales Plus von rund 7 Prozent bei den 13- bis 18-Jährigen.

Eine gesicherte Erklärung haben die Fachleute dafür nicht, nur eine Vermutung, die auch der Nürnberger Spezialist Nonell teilt. Gerade Mädchen, die an Magersucht erkrankten, könnten Stress oft nicht so gut verarbeiten, sagt er. In der Pandemie litten sie besonders stark unter der Verunsicherung und der Sorge, die Kontrolle zu verlieren. „Ihr Essverhalten zu kontrollieren, ist eine Form Bewältigungsstrategie, um wieder mehr Kontrolle zu bekommen.“

Dramatischer Trend: Alter der Magersüchtigen sinkt

Was genau ihre Magersucht ausgelöst hat, kann Lea heute nicht mehr genau sagen. Während der Lockdown-Zeiten sei sie viel alleine zu Hause gewesen, weil ihre Mutter und ihr Stiefvater weiter arbeiten gingen. „Das hat es mir auf jeden Fall leichter gemacht, es zu verbergen“, sagt sie. Sie habe sehr ungeregelmäßig gegessen, Mahlzeiten ausgelassen oder sich nach Fressattacken übergeben.

15 Jahre war Lea damals alt. Ein typisches Alter für Magersucht. An dieser leiden vor allem Mädchen in der Pubertät.

In der Münchner Beratungsstelle von Andreas Schnebel tauchen seit einigen Jahren aber auch jüngere Mädchen auf, teilweise schon 8- oder 9-Jährige. „Das hängt damit zusammen, dass heute alles früher anfängt wie die Pubertät und der Zugang zu sozialen Medien“, sagt der Fachmann.

Dramatische Entwicklung durch soziale Medien

Verschiedene Studien stützen diese Vermutungen, sagt Silja Vocks, Professorin für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Osnabrück. Die früher einsetzende Pubertät könne dazu führen, dass die körperliche Reife möglicherweise nicht kompatibel mit der psychischen Reife sei.

Gleichzeitig seien Kinder und Jugendliche immer früher in den sozialen Medien unterwegs, wo diese permanent mit geschönten Bildern konfrontiert würden. „Je fragiler das Körperbild, desto offener ist man für diesen Einfluss.“

Problematisch seien vor allem spezielle Magersucht-Foren und Bilder oder Videos von ausgemergelten Teenagern unter speziellen Hashtags auf TikTok, Instagram und anderen sozialen Netzwerken, sagt die Expertin Iren Schulz von der Initiative „Schau hin!“. „Da treffen sich Gleichgesinnte, die sich gegenseitig hochpushen.“

Essstörung: So gelingt der Weg aus der Krankheit

Während der Corona-Beschränkungen verbrachten junge Leute noch mehr Zeit im Internet, dieses war zum Teil ihr einziger Kontakt zur Außenwelt. Auf Instagram und anderen Kanälen bekamen sie unentwegt überarbeitete Bilder von Freundinnen, Mitschülerinnen und anderen Gleichaltrigen zu sehen, wie der Münchner Psychologe Schnebel erläutert. Weil sie diese aber nicht mehr trafen, hielten sie deren geschöntes Aussehen für echt. „Die realen Vergleiche sind weggefallen.“

In den vergangenen Monaten hat sich Lea Gramm für Gramm ins Leben zurückgekämpft - und wieder gelernt zu essen. „Ich hoffe, dass es irgendwann Tage gibt, an denen ich mich so akzeptieren kann, wie ich bin“, sagt sie. „Ich will ein normaler Teenager werden können.“ Doch das gelingt nach Angaben von Nonell nur etwa der Hälfte aller Magersüchtigen. 30 Prozent erleiden Rückschläge, bei 20 Prozent wird die Erkrankung chronisch - mit dramatischen Folgen für ihre Gesundheit. „Es ist eine sehr ernstzunehmende Erkrankung. Zwei Prozent der Betroffenen sterben daran“, sagt Nonell.

Expertin Schulz sieht bei den sozialen Medien deshalb eine besondere Verantwortung, wenn sie sich an eine so junge Zielgruppe richten. „Da ist noch eine ganze Menge zu tun“, findet sie. Beim Umgang mit falschen Körperbildern könnte es aber auch zum Teil am fehlenden Problembewusstsein liegen. „Das ist ein Graubereich – nicht wie bei Pornografie, wo das gesetzlich genau geregelt ist.“ (dpa/rei)