Kyjiw schwer getroffenStadt ohne Strom, Heizung, Wasser: Olja über ihren unfassbaren Alltag

Olja spricht über ihren Alltag im dunklen Kyjiw.

Olja (hier auf einem privaten Foto) spricht über ihren Alltag in der ukrainischen Hauptstadt Kyjiw, die von russischen Angriffen schwer getroffen wurde.

Die ukrainische Hauptstadt Kyjiw hat noch Tage nach den massiven russischen Raketenangriffen weiterhin mit Blackouts und Strom-Notabschaltungen zu kämpfen. In vielen Stadtteilen gibt es nur noch stundenweise Strom, Bürgermeister Klitschko erklärte bereits, diese Probleme würden noch bis zum Frühling anhalten. EXPRESS.de hat mit einer Kyjiwerin gesprochen, die von ihrem Alltag in Dunkelheit berichtet.

von Yuliia Dysa  (yd)Martin Gätke  (mg)

Olja lebt in Kyjiw und ist Content-Managerin eines ukrainischen Dienstes für Preisvergleiche. Seit dem Beginn des Krieges ist sie in der Ukraine geblieben, lebt vor allem in der Hauptstadt.

Am 23. November, als der russische Beschuss den stärksten Stromausfall im ganzen Land seit neun Monaten verursachte, war auch Olja in Kyjiw. Heute erzählt sie EXPRESS.de ganz offen, wie es ist, im siebten Monat der Schwangerschaft in einer Stadt ohne Strom, Heizung und Wasser zu leben.

Ukraine: Eine Bewohnerin aus Kyjiw schildert ihren Alltag im Dunkeln

Wir veröffentlichen vier Tage lebendiger „Erinnerungen“ an den Krieg in Form eines Tagebuchs:

Mittwoch, 23. November

Wir waren bei den Eltern meines Mannes im Kyjiwer Stadtteil Desna am linken Dneprufer – genau dort, wo sich das Wärmekraftwerk befindet, das an diesem Tag getroffen wurde.

Kurz vor dem Beschuss gab es einen geplanten Stromausfall. Gegen 13 Uhr ging das Licht wieder an, und ich konnte ruhig arbeiten. Nun, „ruhig“ ist relativ, denn um 12.56 Uhr gab es Luftalarm. Mit dem Wort „ruhig“ meine ich also, dass ich im Korridor saß, hinter zwei Wänden, aber wenigstens mit Licht und normalem Internet.

Olja und ihr Mann Artem.

Olja und ihr Mann Artem.

Gegen 14 Uhr hörten wir mehrere Explosionen, es schien sich um Flakfeuer zu handeln. Bis 14.30 Uhr wiederholten sich die Explosionen in regelmäßigen Abständen, wir konnten in den Nachrichten lesen, dass kritische Infrastruktur getroffen worden war, und um 14.30 Uhr fielen plötzlich Mobilfunk, Internetverbindung, Strom, Heizung und Wasserversorgung aus. Wir konnten nicht einmal unsere Familie und Freunde anrufen oder die Nachrichten lesen.

Alltag in Kyjiw: „Ab 16 Uhr beginnt das ganze Viertel in völlige Dunkelheit zu versinken“

Da es schon fast Dezember ist und es früh dunkel wird, begann das gesamte Viertel ab 16 Uhr in völlige Dunkelheit zu versinken, beleuchtet nur von den Scheinwerfern der Autos und den öffentlichen Verkehrsmitteln. Das sieht schon ohne die alarmierende Situation ziemlich gruselig aus, aber jetzt erst recht.

Die Eltern meines Mannes haben zu Hause einen Gasherd, und wir konnten mit Kerzen und Taschenlampen kochen und zumindest zu Abend essen. Wir gingen zu Bett, ohne etwas Neues zu erfahren, ohne Verwandte erreichen zu können. Wir ließen das Licht im Schlafzimmer an, damit wir aufwachen würden, sobald es wieder funktionieren sollte.

Donnerstag, 24. November

Um 6.40 Uhr morgens war der Strom wieder an, wir sind sofort aufgewacht und haben unsere Handys aufgeladen. Es gab keine Mobilfunkverbindung, aber Wi-Fi funktionierte. Wir schrieben Nachrichten an Verwandte.

Blick auf den Kyjiwer Stadtteil Podil während eines Stromausfalls, nachdem russische Raketen die Stadt schwer getroffen haben.

Blick auf den Kyjiwer Stadtteil Podil während eines Stromausfalls, nachdem russische Raketen die Stadt schwer getroffen haben.

Gegen 7.30 Uhr wurde der Strom wieder abgestellt, die Mobilfunkverbindung blieb weiterhin aus. Nach mehreren Stunden änderte sich die Situation nicht, und ich beschloss, das Viertel auf der Suche nach irgendeiner Verbindung zu verlassen, sodass ich das Stadtzentrum erreichte. In dem Moment, in dem ich mit der U-Bahn das rechte Ufer von Kyjiw erreiche – hurra! Es gab eine Verbindung.

„Wir gingen abends mit eingeschaltetem Lichtschalter ins Bett“

Ich hatte das Glück, den letzten Platz an einem Tisch in einem Café auf dem Chreschtschatyk zu ergattern (eine der zentralen Straßen in Kyjiw, Anm. d. Red.), das sich in einen Co-Working-Space/Shelter/Esszimmer verwandelte. Es gab dort Strom und W-LAN, und ich konnte auch eine Mobilfunkverbindung erwischen. So konnte ich meine Familie anrufen, mit Freunden korrespondieren und die meisten meiner Arbeitsaufgaben erledigen.

Im Haus der Eltern meines Mannes änderte sich die Situation hingegen nur wenig – sie hatten zwar kaltes Wasser, aber sonst nichts. Wieder einmal war ich froh, dass wir einen Gasherd hatten und ein warmes Abendessen zubereiten konnten.

Wir gingen abermals mit eingeschaltetem Lichtschalter ins Bett ...


Sie können der Ukraine helfen, die aktuelle Energiekrise zu überwinden, indem Sie für folgende Projekte spenden. Angesichts des nahenden Winters, des russischen Bombardements der zivilen Infrastruktur und der anhaltenden humanitären Krise besteht ein erhöhter Bedarf an Hilfe:

Zeilen van Vrijheid: Eine niederländische gemeinnützige Organisation bringt Krankenwagen und medizinische Hilfe in die Ukraine.

Der US-amerikanische Schauspieler und Botschafter der Spendenplattform UNITED24, Liev Schreiber, sammelt Geld für den Kauf von Generatoren, die den Betrieb medizinischer Einrichtungen bei Notfällen und geplanten Stromausfällen in der Ukraine aufrechterhalten sollen.

GENERATOR will humanitäre Hilfe für gefährdete ukrainische Bürger anbieten. Die Organisation sammelt Geld für den Kauf von Generatoren, insbesondere im Osten des Landes.

„Leistungsstarke Ladestationen, Generatoren und andere wichtige Dinge sind selbst in der Krise und mit dem neuen Wechselkurs nicht billig – das ist für etwa 70 Prozent der Bevölkerung eine unerreichbare Option“, erklärt auch Olja.


Freitag, 25. November

Diesmal ging das Licht um 3.40 Uhr an und das war natürlich ein kleiner Schock für den Körper und das Nervensystem. Wir luden alles auf, lasen die Nachrichten und schrieben Verwandte und Freunde an.

Wegen des Schocks beim Aufwachen gelang es mir nicht, wieder einzuschlafen. Um 8 Uhr musste ich ein Training im Stadtzentrum absolvieren, was für mich einer der wichtigsten Momente für die Aufrechterhaltung des aktuellen emotionalen Zustands ist. Aber schlussendlich kam die Trainingsgruppe nicht zusammen – die vorangegangenen zwei Tage müssen alle um den Verstand gebracht haben: Die Leute hatten keine Energie mehr zum Trainieren, und auch die banale Frage der Hygiene (der Wunsch, sich den Kopf zu waschen und zu duschen) stand dem im Weg.

„Wenn der Strom weg ist, haben wir keine Heizung, kein Wasser“

Um 7.30 Uhr wurde der Strom wieder abgestellt, aber das heiße Wasser und die Heizung liefen wieder, sodass ich ein Bad bei Kerzenlicht nehmen konnte. So romantisch sind wir jetzt. Nach dem Mittagessen gingen wir wieder ins Stadtzentrum und verbrachten dort die Zeit bis zum Abend mit Arbeiten.

Danach gingen wir zu unserem eigenen Haus im Rajon Solomjanka (Bezirk im Westen von Kyjiw, Anm. d. Red.), aber es gab keinen Strom – also gingen wir in den 14. Stock. Da wir einen Elektroherd haben, kamen wir nicht in den Genuss eines warmen Abendessens. Außerdem bedeutet das Abschalten des Stroms in unserem Haus, dass es keine Heizung und kein Wasser gibt.

Samstag, 26. November

Das Licht wurde um 1 Uhr nach Mitternacht eingeschaltet. Ich hatte nicht die Kraft, in der Nacht wieder aufzustehen, also schlief ich weiter, und mein Mann machte sich an die Hausarbeit: Duschen, etwas zum Frühstück kochen, Wasser kochen und in eine Thermoskanne für den Morgen füllen, Wäsche waschen, alle Geräte aufladen.

Als er um 7 Uhr ins Bett ging, war es noch hell. Ich wachte um 9.30 Uhr auf, weil ich zum Schwimmbad gehen wollte. Der Strom war noch da, also lief ich los, um zu duschen, meine Haare zu waschen und heißen Tee zu trinken. Um 12.15 Uhr, so berichtete mein Mann später, fiel der Strom wieder aus. Aber an diesem Tag kam er erst am Abend wieder, und seitdem hat sich die Lage etwas stabilisiert.

Alltag in Kyjiw: „Es ist nicht klar, wann es hell wird und wann nicht“

Von wirklich geplanten Abschaltzeiten, nach denen wir in den vergangenen zwei Wochen unser Leben irgendwie geplant haben, ist immer noch nicht die Rede. Aber jetzt liegen die Intervalle für die Notabschaltung bei 6, 8, 10 Stunden und nicht mehr bei 20, 24 Stunden wie an den drei vorangegangenen Tagen - es ist also ein bisschen mehr Erholung für die Seele geworden. Aber natürlich ist es extrem schwierig, Arbeit und persönliche Angelegenheiten irgendwie zu planen, weil nicht klar ist, wann es hell wird und wann nicht.

Alle halten durch. Aber um ehrlich zu sein, ist es in den letzten Wochen schwieriger geworden. In meinem Freundeskreis merke ich, dass die meisten schon lange müde sind, aber jetzt ist es noch deutlicher geworden. Vielleicht liegt es neben den bekannten Gründen auch am Wetter, am Mangel an Sonne. Selbst die Psychotherapeutin, die an der Sitzung teilnahm, stellte fest, dass die meisten ihrer Klientinnen und Klienten in den letzten zwei Wochen einen solchen Rückschlag erlebt haben.

„Ich weiß, dass wir es schaffen werden“

Ich persönlich war in den letzten Wochen auch ein bisschen erschöpft. Obwohl ich vorher normal durchgehalten habe. Ich bin derzeit im siebten Monat schwanger, und wenn mir früher dieser schöne Zustand geholfen hat, mich von all den Schrecken abzulenken, so ist es jetzt schwieriger, ihnen keine Aufmerksamkeit zu schenken. Wahrscheinlich habe ich immer noch hormonell bedingte emotionale Schwankungen, aber es kommen auch Ängste wegen all der Ereignisse, die Müdigkeit nach neun Monaten Krieg und so weiter kommen hinzu.

Ich weiß, dass wir es schaffen werden. Ein geliebter Mensch, Verwandte und Freunde sind in der Nähe. Und ich bin froh, sie um mich zu haben, froh, dass ich wenigstens einige meiner vertrauten Lieblingsdinge in meinem Leben beibehalten kann, wie die Kommunikation mit Freunden, Sport, neue coole Arbeitsprojekte. Aber ja, es ist ziemlich schwierig. Aber für die Jungen und Mädchen an der Front ist es noch viel schwieriger – unser Ziel ist das gleiche und genauso ehrwürdig.