Der Autor und Kabarettist Florian Schroeder hat den Kopf der „Identitären Bewegung“, Martin Sellner (35), mehrfach getroffen. Und enthüllt dessen extrem gefährliche, rechte Gedankengänge.
„Identitäre Bewegung“Nach Treffen mit Chef Sellner: Was die „Neuen Rechten“ wollen
Seit den Veröffentlichungen über das Potsdamer „Geheimtreffen“ der Rechten ist Deutschland alarmiert, Zehntausende zeigen an diesem Januar-Wochenende auf Demonstrationen Gesicht gegen AfD und rechte Zündler. Doch wer sind die „Identitären“, die dabei eine große Rolle spielen?
EXPRESS.de sprach dazu mit Kabarettist und Autor Florian Schroeder (44), der ein Kapitel seines Bestsellers „Unter Wahnsinnigen – Warum wir das Böse brauchen“ (dtv Verlag) den Identitären und deren Chef, dem Österreicher Martin Sellner, gewidmet hat.
Florian Schroeder: „Man nannte sie früher ‚Nazi-Hipster‘“
„Identitäre Bewegung“ klingt so harmlos. Was steckt eigentlich dahinter?
Florian Schroeder: Die Identitäre Bewegung will als Vorfeldorganisation rechten Parteien wie der AfD den Boden bereiten, eine neue rechte Identität bauen. Sie macht den Job, den die AfD braucht. Die Harmlosigkeit ist bewusst gewählt, man nannte sie früher „Nazi-Hipster“. So wollen sie anschlussfähig an junge Leute sein und an die, die nicht unbedingt rechtsextremistische Wähler sind, die skeptisch sind.
Was wollen sie erreichen?
Florian Schroeder: Sie wollen, dass wir die Neuen Rechten, wie sie sich selbst nennen, nicht mit den Alten Rechten verwechseln. Ihnen geht es nicht um eine Offensive, sondern um die Verteidigung der europäischen oder deutschen Identität, die dabei sei, durch Migration, also durch Menschen anderer Identitäten, die ins Land kommen, zerstört zu werden. Und zwar, weil diese uns austauschen wollen. Das ist ein Verschwörungsmythos und vollkommen unhaltbar.
Auch die Worte, die die Rechten benutzen, klingen erst so harmlos. Erst nach längerem Überlegen merkt man, dass da Böses hinter steckt.
Florian Schroeder: Stimmt, man sollte immer ein Wörterbuch dabei haben. Begriffe wie „Remigration“, „Großer Austausch“, „Globalismus“, „Assimilation“ muss man immer erst rückübersetzen. Jetzt haben die Rechten den Begriff „Remigration“, der in der Migrationsforschung eigentlich eine grundseriöse Bedeutung hat, für sich gekapert, für ihre Zwecke gedreht.
Bei der Vorbereitung für Ihr Buch haben Sie sich mit Martin Sellner, Kopf der Identitären Bewegung, getroffen. Der wirkt oft so, als könne er kein Wässerchen trüben. Wie ist er wirklich?
Florian Schroeder: Das ist Inszenierung. Doch Sellner ist nicht so. Er ist eine Art Poster-Boy, der Schwiegermama-Liebling, ein im Umgang sehr zuvorkommender, zugewandter, charmanter Mann, aber auch sehr zurückhaltend, manchmal fast devot. Das ist nicht das, was wir erwarten. Bei Nazis denken wir an Springerstiefel und die NPD. Die gibt es natürlich auch – aber sie wollen sich von diesem Image lossagen. Sie wollen damit eine Art intellektuelle Vorherrschaft erreichen. Sellner soll der Typ sein, mit dem man auch Jüngere erreichen kann. Was mittlerweile schwerer ist, weil er auf fast allen Social-Media-Portalen gesperrt ist.
Worum ging es in Ihren Gesprächen?
Florian Schroeder: Ich habe jahrelang von ihm das gehört, was er jetzt auch in Potsdam gesagt haben muss. Europa ist eine Scheindemokratie, der Universalismus ist totalitär, Menschen sollen da bleiben, wo sie herkommen, sonst müsse man dafür sorgen. Er weist zwar ständig darauf hin, dass dies gewaltlos geschehen müsse. Eine Nebelkerze. Wie wollen Sie Millionen Menschen rückführen? Geht nur mit Gewalt.
Florian Schroeder berichtet von Rekrutierungstreffen
Sie waren auch bei einem Rekrutierungstreffen in einer Berliner Kneipe. Wer war mit dabei?
Florian Schroeder: Mit mir saßen 20-jährige Burschenschaftler im Saal, die aussahen, als seien sie direkt von der Hitler-Jugend in die heutige Zeit gebeamt worden, aber auch „ganz normale“ Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, also Unternehmensberater oder Lehrer und natürlich ein paar Leute aus dem Hau-Drauf-Milieu.
Wann und wie war Ihr letztes Treffen?
Florian Schroeder: Die letzte Begegnung war im Juni 2023. Sellner war wieder gut drauf nach einer langen Phase der Rückschläge für die rechte Bewegung.
Welche Rückschläge meinen Sie?
Florian Schroeder: Bevor das Migrationsthema jetzt wieder groß wurde, hatten die Rechten keine Themen und Richtung mehr. Corona, der Ukraine-Krieg, der Israel-Konflikt – sie wussten nie, auf welcher Seite sie stehen sollten. Sellner war selbst auch sehr unentschieden und hielt sich aus den Debatten dazu raus. Als sich dann aber die Inflation anbahnte und die Migrations-Debatte erneut Fahrt aufnahm, nutzten sie das für sich und schlugen wieder voll zu.
Treiben die Identitären die AfD eines Tages ganz nach rechts?
Florian Schroeder: Ich glaube nicht, dass die Identitären sehr stark werden. Das waren sie nie – sie waren immer klein und strategisch wichtig, aber nicht groß. Viele von Sellners Projekten sind ja auch gescheitert, unter anderem das, die Bewegung groß zu machen. Aber wir sehen, dass die AfD immer weiter nach rechts rückt. Da wirken Identitäre wie Sellner als kreative Blaupausen.
Glauben Sie, dass die AfD auch ohne die Identitären so gute Umfrage-Werte hätte?
Florian Schroeder: Wahrscheinlich nicht. Identitäre speisen die AfD mit Sprache und Ideen, die oft auch über das Parteipolitische hinaus gehen.
Florian Schroeder über „erschreckend hohe“ Umfragewerte der AfD
Stünde die AfD noch besser da, wenn sie einen Mann wie Sellner an der Spitze hätte?
Florian Schroeder: Möglich. Wir haben bisher das Glück, dass innerhalb der AfD keine charismatischen Figuren agieren. Umso erschreckender, dass sie dennoch derart hohe Werte haben.
Wir sprechen in diesen Tagen so oft von Verboten. Sollte man Martin Sellner nicht mit einem Einreiseverbot belegen?
Florian Schroeder: Solange er sich nichts zuschulden kommen lässt, keine Straftaten begeht, hat er Reisefreiheit. Das ist ein hohes demokratisches Gut. Viel wichtiger finde ich hier das Zeichen, das diverse Social-Media-Plattformen gesetzt haben, indem sie ihn gesperrt haben. Nicht einmal X unter Elon Musk wollte ihn zurück. Darin sieht man: Die Sozialen Netzwerke, die immer auch als Tummelort des Wahnsinns beschrieben werden – und das häufig zu recht – greifen punktuell durch.
Sie schreiben und sprechen über Sellner. Sollte man den Namen nicht lieber verschweigen, damit er und seine Ideen nicht noch mehr ins Gespräch kommen?
Florian Schroeder: Totschweigen ist nie sinnvoll. Das Verdrängte kehrt zurück und dann umso machtvoller. Das wissen wir aus der Psychologie. Abwehrkräfte stärkt der Organismus nicht durch Verstecken vor den Erregern, sondern, indem er sich ihnen aussetzt, um gegen sie immun zu werden. Das Gift kondensiert aufnehmen, um ihm zu widerstehen.
„Große Sorge, dass wir an einem gefährlichen Punkt stehen“
Ist das Rechtsaußen-Team Sellner/Weidel/Chrupalla gut für einen Kabarettisten?
Florian Schroeder: Materialmäßig unbedingt. Meine Wirkmacht ist da sicher begrenzt. Ich kann nur mit den Mitteln der Unterhaltung aufklären, zeigen, wo es hingeht, wenn man diese Leute unterstützt.
Glauben Sie, dass 30 Prozent der Deutschen – wie es Umfragen sagen – nazi-nah sind und wir vor einem Scheitelpunkt stehen?
Florian Schroeder: Nach allem, was wir wissen, haben wir genau diesen Anteil an Menschen, die ein latentes oder auch gefestigtes rassistisches Weltbild haben. Das Verführerische an rechten Extremisten ist, dass sie in Zeiten des Kontrollverlusts neue Kontrolle versprechen. Der Preis, den wir zahlen würden, wäre hoch – unsere Freiheit. Meine Sorge ist groß, dass wir tatsächlich an einem gefährlichen Punkt stehen.