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Interview

„Der Hass ist sehr hungrig“Michel Friedman spricht über Kampf gegen Antisemitismus

Interview mit Michel Friedman, deutsch-französischer Publizist, Talkmaster, Jurist, Philosoph und ehemaliger Politiker, in der Flora Köln am 5. März 2024.

Michel Friedman traf sich im März 2024 mit EXPRESS in der Kölner Flora zu einem langen Interview.

Der Talkmaster, Jurist und Philosoph Michel Friedman hat mit EXPRESS.de über die Situation für jüdische Menschen in Deutschland, und über den Hass, der offenbar niemals aufhört, gesprochen.

von Horst Stellmacher  (sm)

Am 7. Oktober überfiel die palästinensische Terror-Organisation Hamas Israel. 1239 Menschen kamen ums Leben, über 200 Geiseln wurden verschleppt, das Schicksal von über 100 von ihnen ist weiter ungeklärt.

Doch in Deutschland war die Reaktion auf dieses schreckliche Geschehen sehr verhalten. Ein Zustand, der den Juristen und Publizisten Michel Friedman (68) empört und dies in seinem Bestseller „Judenhass“ (Berlin Verlag, 12 Euro) stark kritisiert. Heute, genau ein halbes Jahr nach dem Terror-Angriff, zieht er im großen EXPRESS-Interview Bilanz.

Michel Friedman: „Sicherheit ist mir nicht groß genug“

Ehe Sie als Kind mit Ihren Eltern nach Deutschland kamen, lebten Sie in Paris. Wenn Sie heute mit Ihrer Familie vor derselben Frage stünden – würden Sie nach Deutschland kommen?

Michel Friedman: Nein, ich würde aber auch nicht in Frankreich bleiben. Ich würde Europa verlassen und mir alles von außen anschauen. Wenn man sieht, wie ein Teil des demokratischen Europas sich verändert, dann ist für mich als jüdischer Mensch die Gefahr, auf einem Kontinent zu leben, in dem die Menschenwürde, die Freiheit und der Frieden bedroht sind, zu groß. Die Sicherheit, die ich mir wünsche, um mir hier meine Zukunft aufzubauen, wäre mir nicht groß genug.

Wie war es damals, als Jude nach Deutschland zurückzukehren?

Michel Friedman: Meine Eltern hatten Angst, als Juden erkannt zu werden und deswegen ihren Davidstern nicht getragen. Sie lebten hier mit den Mördern und Mörderinnen, mit den Mitläufern und Mitläuferinnen zusammen. Die Juden lebten damals noch ghettoisiert.

Hatten Sie auch Angst?

Michel Friedman: Nein. Ich habe mit 13 den Davidstern angezogen, nicht demonstrativ, sondern weil er meine Identität war. Meine Freunde trugen ein Kreuz, warum sollte ich nicht den Davidstern tragen? Dass sich heute Jüdinnen und Juden überlegen müssen, ihren Davidstern abzulegen und andere Zeichen zu verstecken, mit denen sie zeigen, dass sie Juden sind, empfinde ich als einen Offenbarungseid der Gesellschaft.

Was würden Sie anderen raten?

Michel Friedman: Ich möchte anderen nichts raten. Ich kann es aber für mich beantworten. Ich trage den Davidstern, werde mich von niemandem zwingen lassen, ihn jemals abzulegen. Im Gegenteil. Ich werde immer dafür kämpfen, dass diese Freiheitsrechte mit Freude gelebt werden. Aber ich weiß, dass der Hass sehr hungrig ist, nie satt wird. Wir Juden und Jüdinnen in Deutschland sind vielleicht der Appetitanreger, danach kommen noch die Vorspeise, eine zweite Vorspeise, eine Zwischenspeise und dann die Hauptspeise und irgendwann sind alle dran gewesen. Deswegen sollte man schon beim Appetitanreger das Stopp-Schild setzen!

Interview mit Michel Friedman, deutsch-französischer Publizist, Talkmaster, Jurist, Philosoph und ehemaliger Politiker, in der Flora Köln

Michel Friedman im Gespräch mit EXPRESS-Reporter Horst Stellmacher am 5. März 2024 in Köln.

Wir sind genau ein halbes Jahr nach dem 7. Oktober. Wie denken Sie heute über Reaktionen in Deutschland auf den Hamas-Überfall?

Michel Friedman: Ich empfand es beschämend, dass die Empathie nicht reichte, um die jüdischen Menschen zu umarmen. Es waren gerade mal 20.000 Demonstranten auf der Straße. Wenn ich das vergleiche mit dem Charlie Hebdo-Attentat – da war ganz Deutschland unterwegs. Was haben wir nicht alles gemacht, um den mutigen Frauen im Iran unsere Solidarität zu zeigen? Und jetzt? Ich habe mir überlegt, ob ich nicht eine Vermisstenanzeige aufgeben sollte: „Wo seid ihr alle? Ich brauche euch! Ich möchte umarmt werden!“

Fühlen Sie sich allein im Kampf gegen den Judenhass?

Michel Friedman: Nein, das würde unterschlagen, dass es doch viele gibt, die sich oft seit Jahrzehnten engagieren. Aber Tatsache ist, dass die Mehrheit der Gesellschaft sich nicht angesprochen gefühlt hat. Allerdings muss ich sagen, dass sich die Politik in den ersten Tagen sehr klar positioniert hat. Obwohl es nicht mehr auszuhalten ist, wenn von „Wehret den Anfängen“ gesprochen wird, denn die Anfänge sind längst durch, wir sind mittendrin. Viele von denen, die das jetzt fordern, haben es selbst versäumt, sich gegen die Anfänge zu wehren.

Michel Friedman: „Bin ein verzweifelter Optimist!“

Vor 20 Jahren habe ich Sie gefragt, ob wir in Deutschland den Antisemitismus besiegen könnten. Sie antworteten: „Ich bin zu 51 Prozent Optimist.“ Wie ist es heute?

Michel Friedman: Heute bin ich bei 50,01 Prozent. Ich bin da ein verzweifelter Optimist!

Klingt nicht sehr positiv. Warum?

Michel Friedman: In diesen 20 Jahren ist die Demokratie in der Bundesrepublik deutlich zerbröselt. Das gilt nicht für die staatlichen Institutionen. Aber wenn eine Partei in den Bundestag und in die Landtage gewählt wird, die die Demokratie vernichten und den Artikel 1 des Grundgesetzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ abwandeln will in „Die Würde von ganz bestimmten Menschen ist antastbar“, dann ist die Demokratie deutlich angegriffen. Diese Partei ändert den großen Satz von George Tabori „Jeder ist jemand“ in „Einige sind niemand“.

Michel Friedman mit Ehefrau Bärbel Schäfer 2023

Michel Friedman und seine Ehefrau, die Autorin und Moderatorin Bärbel Schäfer, am 27. April 2023.

Sieht aus, als ändere sich da etwas – überall gibt es Demonstrationen für die Demokratie …

Michel Friedman: ... ja, und da beeindrucken mich besonders die Demonstrationen in Ostdeutschland. In Köln muss man nicht mutig sein, um gegen Rechtsextremismus und Menschenhass zu demonstrieren. Im Osten gibt es Städte, in denen der Rechtsextremismus Gewalt androht, um politische Meinungen zu unterdrücken. Aber man muss auch feststellen, dass das nichts mit dem Kampf gegen den Judenhass zu tun hat, sondern mit dem Erkennen, dass es hier eine Partei gibt, die deportieren will, die nicht nur rassistisch und antisemitisch, sondern auch völkisch denkt.

Wie ist das so gekommen?

Michel Friedman: In den letzten 20 Jahren haben zwei Generationen sehr gemütlich im Wohlstand gelebt. Sie haben alles als selbstverständlich empfunden, auch die Freiheit und die Demokratie. Aber der Sauerstoff der Demokratie ist, dass Menschen, die sie wollen, sich engagieren. Der Ballon Demokratie, der immer neuen Sauerstoff braucht, ist noch nicht im Sinkflug, aber er sinkt schon.

Was ist zu tun?

Michel Friedman: Wenn wir das revitalisieren wollen, müssen wir wieder neuen Sauerstoff reinpusten, uns wieder engagieren und mit genauso glänzenden Augen sagen, dass wir das wollen. Natürlich hat Demokratie ihre Schwächen. Doch die schlechteste Demokratie ist mir immer noch lieber als die beste Diktatur.

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Was sagen Sie Ihren Kindern, wenn sie Fotos von geschändeten Holocaust-Gedenkstätten sehen?

Michel Friedman: Das müssen wir gar nicht so hoch aufhängen. Die Frage ist doch schon, wie ich mit meinen Kindern spreche, wenn der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung uns empfiehlt, nicht jederzeit und überall jüdisch sichtbar spazieren zu gehen. Ich habe mich da gefragt, was das für ein Vorschlag ist. Wenn es so weit ist, dann ist es doch Aufgabe des Staates, mir als jüdischem Bürger dieses Landes zu ermöglichen, dass ich überall und zu jeder Zeit spazieren gehen kann, wie jeder andere Bürger auch.

Juden werden seit vielen Jahrhunderten verfolgt. Woher kommt der Hass?

Michel Friedman: Da muss man nur die Kirche fragen. Diese erste globale Firma der Welt hatte ihre Handelsvertreter ausgeschickt, und die haben den Menschen erzählt: „Gottes Sohn wurde von Juden ermordet!“ Die Juden wurden der Sündenbock der Welt. Erst als Folge des 2. Vatikanischen Konzils wurde es 1965 als Lüge bekannt: „Man darf die Juden nicht als von Gott verflucht darstellen“, hieß es da. Wir sind gerade auf einem wenige Mikrosekunden befindlichen Weg, das zu bearbeiten.

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Bewegendstes Kapitel Ihres Buches ist „Brief an meine Söhne“. Ihnen raten Sie: „Hasst nicht. Niemanden!“ Wie lange haben Sie selbst gebraucht, um das zu erkennen?

Michel Friedman: Das hat mir schon meine Mutter beigebracht. Damals, als mir jemand im Streit Du bist doch nur ein Jude nachgerufen hatte. Ich war wütend, verunsichert, verletzt, traurig. Doch meine Mutter sagte mir damals: Tu mir einen Gefallen, hasse nicht. Der Hassende ist vergifteter als der Gehasste, denn der muss 24 Stunden mit dem Hass leben. Ich habe das befolgt: Ich habe noch nie gehasst – und bin deswegen wohl auch fröhlicher und glücklicher als Herr Höcke.

Michel Friedman: Verheiratet mit Moderatorin Bärbel Schäfer

Julien Michel Friedman (geboren am 25. Februar 1956 in Paris) entstammt einer polnischen Familie jüdischen Glaubens aus Krakau, von der fast alle Mitglieder im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ermordet wurden. 1948 emigrierten die Eltern nach Paris, 1965 kamen sie nach Frankfurt. 1974 machte Michel Friedman Abitur, studierte Humanmedizin, wechselte nach dem Physikum zur Rechtswissenschaft. Von 2000 bis 2003 war er stellvertretender Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, von 2001 bis 2003 Präsident des Europäischen Jüdischen Kongresses.

Seit 2016 ist er Honorarprofessor, war bis 2022 Leiter des von ihm mitbegründeten Center for Applied European Studies an der Frankfurt University. Er moderiert u. a. „Auf ein Wort“ bei der Deutschen Welle. Friedman ist seit seinem achtzehnten Lebensjahr deutscher Staatsangehöriger. Er ist seit 2004 mit TV-Moderatorin Bärbel Schäfer (60) verheiratet. Das Paar hat zwei Söhne.