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„In was für einer Gesellschaft leben wir denn?“Deutschlands bekannteste Notärztin prangert Gesundheitspolitik an

Das undatierte Foto zeigt die mit dem Bundesverdienstorden ausgezeichnete Notfallmedizinerin Dr. Lisa Federle. Die Tübingerin trägt ihre Einsatzkleidung.

Die Notärztin und Bestsellerautorin Lisa Federle (hier auf einem undatierten Foto) schrieb das Buch „Vom Glück des Zuhörens“, in dem sie mit der aktuellen Gesundheitspolitik hart ins Gericht geht.

Notfallmedizinerin Lisa Federle wünscht sich, dass Ärzte mehr Zeit für ihre Patientinnen und Patienten bekommen. Sie sagt: „Technik wird bezahlt, Zuhören nicht!“

von Andrea Kahlmeier  (ak)

Existenzängste, Krieg, Krisen, aber auch unglückliche Beziehungen können krank machen. Knapp jeder Vierte fühlt sich laut aktueller Studie häufig gestresst. Die KKH-Krankenkasse spricht im ersten Halbjahr 2023 von einer Steigerung um 85 Prozent der Krankschreibungen wegen seelischer Leiden.

Und wer weiß, wie viele psychosomatische Störungen gar nicht erkannt werden? Deshalb fordert Deutschlands bekannteste Notärztin Lisa Federle (62; ausgezeichnet mit dem Bundesverdienstorden): „In unserer Gesundheitspolitik wird Technik bezahlt, Zuhören aber nicht. Das muss sich ändern.“

Notärztin Lisa Federle: Reden hilft – und kann heilen

Mehr Zeit! Eine Bitte, die viele Patienten sich offenbar wünschen. Denn Federles neues Buch „Vom Glück des Zuhörens“ schnellte auf Anhieb in die Spiegel-Bestsellerliste. Sie schreibt über gebrochene Herzen und die Suche nach Liebe und Anerkennung.

Sie skizziert im Gespräch mit EXPRESS.de Beispiele von Patientinnen und Patienten, die nachdenklich stimmen: Da sind Menschen, die nicht zugeben wollen, dass sie ihren beruflichen Frust im Alkohol ertränken („nur ein, zwei Gläschen Wein am Abend“), alleinerziehende Mütter, denen die Panik, keinen Kindergartenplatz zu bekommen, auf den Rücken schlägt oder „Schattenfrauen“ mit Schwindelanfällen.

Wie Judith, die 30 Jahre Geliebte eines verheirateten Mannes war und dennoch lieber litt, als allein zu leben. „Ich kann bestimmt keine Patentrezepte geben, aber zuhören, den Kontakt zu Therapeuten herstellen und vor allem aufzeigen, dass es manchmal besser ist, neue Wege zu gehen.“

Diesen Ratschlag gab Lisa Federle auch einem Mann, der seine demenzkranke Frau nicht verlassen, sie pflegen will, aber auch eine Geliebte hat. Er hatte Gewissensbisse und die schlugen ihm im wahrsten Sinne des Wortes auf den Magen. Federle: „Das ist ein Thema, das uns immer mehr beschäftigen wird. Die Menschen werden älter, es gibt immer mehr Beziehungen, in denen ein Partner pflegebedürftig wird. Eine Affäre entspricht vielleicht nicht unseren gängigen Vorstellungen, aber wer will den Mann verurteilen, bloß weil er dieses Verhältnis braucht, um für seine Frau stark zu sein?“ Sie bestimmt nicht, sagt Lisa Federle und gibt freimütig zu, selbst lange Geliebte eines verheirateten Mannes gewesen zu sein.

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Bei ihren Hausbesuchen trifft die Ärztin leider oft genug auch auf Menschen, die offensichtlich tagelang mit niemandem gesprochen haben. Auf dem Teller ein Rest von Dosen-Ravioli, in eine Decke geschlungen, um nicht zu frieren. „Gerade diese Menschen steigern sich dann oft in ihre Ängste hinein“, weiß sie und nennt ein Beispiel: „Der Blutdruck ist abends erhöht. Da entsteht Panik. Dann wird er noch höher. Wen kann ich anrufen? Keinen! Die wahre Krankheit: Einsamkeit.“

Das sind Momente, in denen die kämpferische Ärztin aus der Haut fahren könnte: „In was für einer Gesellschaft leben wir denn, dass sich um diese Menschen nicht mehr gekümmert wird?“

Das sind die Vorschläge von Notärztin Lisa Federle

Klare Worte, die jeder unterschreiben würde. Doch wie kann man das ändern? Lisa Federle hat da ein paar Ideen:

  1. „Was bringt es mir, wenn ich einen Patienten alle zwei Wochen wegen chronischer Rückenschmerzen ins unglaublich teure MRT schicke? Wenn organisch abgeklärt ist, dass da nichts ist (das ist natürlich immer die Grundvoraussetzung), dann muss ich als Ärztin Zeit haben, in die Tiefe zu gehen, mir für einen Patienten mehr Zeit nehmen können als fünf Minuten. Das Zeitfenster pro Patient sollte auf 15 Minuten aufgestockt werden.“
  2. „Wir müssen auf die sozialen Gegebenheiten stärker reagieren“, fordert sie. Es sei nun mal nicht mehr wie früher, wo Kinder und Enkelkinder im Haus oder zumindest in der Nähe leben würden. „Ich habe erlebt, dass eine Frau sich immer aggressiver gegenüber ihrem bettlägerigen Mann verhalten hatte, weil sie mit der Situation total überlastet war. Die Frau braucht Freiräume.“ Und da helfe schon jemand, der sich vielleicht ein Stündchen um den alten Mann kümmere.
Die Ärztin Lisa Federle untersucht in einer mobilen Arztpraxis in Tübingeneinen Geflüchteten. Für ihre Idee einer rollenden Sprechstunde wurde die Medizinerin 2020 mit dem Bundesverdienstorden ausgezeichnet.

Lisa Federle untersucht 2016 einen Geflüchteten aus Syrien. Für ihre Idee einer rollenden Sprechstunde in Tübingen ist die Ärztin 2020 mit dem Bundesverdienstorden ausgezeichnet worden.

Lisa Federles Vorschlag: „Ein soziales Jahr im Pflegebereich sollte Pflicht werden. Wir müssen schon früh versuchen, unseren Nachwuchs zu sensibilisieren. Damit fängt man am besten schon in der Schule an, zum Beispiel mit einem sozialen Praktikum, das 14-Jährige im Altenheim oder beim Roten Kreuz absolvieren müssen.“

Sie fügt lachend hinzu: „Und im Ethik-Unterricht sollten vielleicht auch mal Umgangsformen thematisiert werden.“ Wer stehe denn noch auf, wenn eine alte Frau die Bahn betrete? Außerdem regt Federle aufgrund der steigenden Zahlen von psychosomatischen Störungen an, dass Krankenkassen künftig auch Kunst- oder Musiktherapien zahlen, die vielen Menschen mit psychischen Störungen enorm helfen könnten. „Es kann heute doch Monate dauern, bis man einen Platz bei einem Psychotherapeuten bekommt. Da muss etwas zwischengeschaltet werden.“