Kurz nachdem Putin die Ukraine angegriffen hat, erklärte er, dass es um die „Entnazifizierung“ und „Entmilitarisierung“ gehe. Auch das Staatsfernsehen versuchte den Russinnen und Russen, diese Begrifflichkeiten klarzumachen. Ohne Erfolg, wie ein Bericht nahelegt. Der Kreml hat seine Taktik geändert, das Fernsehen hat ein Problem.
Kreml völlig gescheitertPutins Propaganda hat im Staats-TV ein gewaltiges Problem
Während die russischen Regierungsverantwortlichen in ihren Reden an das russische Volk zuletzt ihre Kriegsziele neu stecken mussten, haben die Menschen in dem Land noch immer kein rechtes Verständnis davon, was eigentlich das wirkliche Ziel von Putin ist.
Mit dem Ausbruch des Krieges wurden auch die Begrifflichkeiten der Regierungsbeamtinnen und -beamten sehr aggressiv: Von „Entnazifizierung“ war die Rede, von der „Rettung der Menschen vor dem Genozid“, von der „Befreiung der Ukrainer vor der Unterdrückung“.
Doch das hat sich nun geändert. Wie das unabhängige investigative russische Medium „Projekt“ herausgefunden hat, hat die Präsidialverwaltung die Nutzung des Begriffs „Entnazifizierung“ erheblich reduziert. Der Grund dafür: Man sei nicht in der Lage, den Menschen in Russland zu erklären, was das eigentlich bedeutet.
Mit anderen Worten: Hier ist der Kreml mit seiner Propaganda-Politik gehörig gescheitert.
Ukraine: Menschen in Russland verstehen „Entnazifizierung“ nicht
„Projekt“ zitiert vier Quellen – einen hochrangigen Medienmanager, einen Soziologen sowie zwei dem Kreml nahestehende Politik-Strategen. Sie erklärten demnach, der Kreml habe Telefoninterviews angeordnet, um herauszufinden, wie die Menschen bestimmte Ausdrücke und Wörter interpretieren, mit denen sie im Fernsehen über den Krieg in der Ukraine und seine Ziele gefüttert werden.
Diese Interviews hätten gezeigt, dass nur sehr wenige Menschen überhaupt erklären konnten, was der Begriff „Entnazifizierung“ überhaupt zu bedeuten hat und was er beschreiben soll. Zudem sei es einigen Menschen schwergefallen, den Begriff überhaupt auszusprechen, behaupten die Quellen.
Russland: „Danach begann für uns ein Schlamassel“
„Danach begann für uns ein Schlamassel – jede Woche suchten wir nach neuen Worten, fanden aber nichts Passendes“, wird eine der Quellen zitiert. Die einzig vernünftige Entscheidung aus Sicht des Kremls sei also gewesen, die Verwendung des Ausdrucks in der russischen Propaganda stark einzuschränken und zu versuchen, „richtige“ Wörter zu finden.
Die Journalistinnen und Journalisten von „Projekt“ nehmen Putin Chef-Propagandisten, Dmitri Kisseljow, als ein Beispiel dafür, wie sich die Kommunikation geändert hat. Kisseljow ist TV-Moderator im Staatssender „Rossija 1“ und versuchte in einer Ausgabe „News of the Week“, die samstags ausgestrahlt wird, geschlagene sieben Minuten lang die Bedeutung von „Entnazifizierung“ zu erklären.
Das tat er dann noch zwei weitere Male, bis März. Doch dann änderte sich plötzlich etwas, Kisseljow nutzte den Begriff im April entweder überhaupt nicht – oder nur ein einziges Mal in einer Sendung.
Russland: Regierungsvertreter haben ihr Vokabular geändert
Auch die russischen Regierungsbeamtinnen und -beamten haben ihre aggressive Wortwahl angepasst: „Entnazifizierung“ oder „Rettung der Menschen vor dem Genozid“ fielen weg. Stattdessen war die Rede von der „Hilfe für die Menschen im Donbass“ oder die „Beendigung der US-Dominanz in der Welt“.
Gleichzeitig äußerten sich die führenden Köpfe der russischen Propagandamaschine wesentlich seltener zum Krieg – auch Putin selbst, der es zu Beginn des Kriegs noch vorzog, praktisch jeden Tag seine Einschätzungen zur „militärischen Sonderoperation“ abzugeben. Auch Verteidigungsminister Sergei Shoigu hat sich verflüchtigt.
Immer mehr drängt sich der Verdacht auf, dass praktisch niemand in Russland auf den Krieg vorbereitet war – abgesehen vom engsten Kreis um Putin. Das zeigen die ständigen vagen Versuche von Regierungsvertretern, nicht nur einer Nation, sondern auch sich selbst diesen Krieg zu erklären. Und fast täglich kommt eine neue Version hinzu. (yd/mg)