Ukrainerin zwischen Frust und HoffnungSchmerzhafte Sicht auf den Krieg: „Schockierendes Wirrwarr“

Ein mit Blut verschmierter Kinderwagen, im Hintergrund ein durch russische Bomben zerstörtes Haus. Hätte der ukrainische Präsident das wirklich verhindern können, fragt unsere Kollegin.

Ein mit Blut verschmierter Kinderwagen, im Hintergrund ein durch russische Bomben zerstörtes Haus. Hätte der ukrainische Präsident das wirklich verhindern können, fragt unsere Kollegin.

Unsere ukrainische Kollegin, die Journalistin Yuliia Dysa, schreibt in einer regelmäßigen Kolumne über ihre ganz persönlichen Gedanken und Gefühle während des schrecklichen Krieges in ihrer Heimat sowie über das Leben ukrainischer Geflüchteter.

von Yuliia Dysa  (yd)

Der Krieg in der Ukraine tobt seit mehreren Monaten. Hier schildert unsere ukrainische Kollegin Yuliia Dysa ihre aktuelle Gefühlslage.

Nicht selten höre ich hier in Deutschland inzwischen Aussagen wie „Selenskyj hätte das längst beenden müssen“ oder „die Ukraine ist selbst schuld“. Das Handeln Putins scheint sogar vereinzelt gebilligt zu werden. Ganz zu schweigen von den Kommentaren in den sozialen Medien – es ist einfach ein schockierendes Wirrwarr.

So sehr es mir als ukrainischem Flüchtling wehtut – ich versuche zu verstehen, wie solche Aussagen entstehen und solche Haltungen in den Köpfen der Menschen einen Sinn ergeben. Und ich komme zu dem Schluss, dass es gar nicht um Politik geht, sondern um Menschlichkeit und moralische Richtlinien, die man hat. Oder eben nicht.

Denn die Versuche, die militärische Aggression und die Verbrechen, die Russland gegen die Zivilbevölkerung in meinem Land begonnen hat und fortsetzt, zu rechtfertigen, sind für mich vergleichbar mit einem Vergewaltiger, den man für unschuldig erklärt, indem man das Opfer beschuldigt, ihn provoziert und angestiftet zu haben.

Krieg in der Ukraine: „Putin ein Vergewaltiger?“

Putin ein Vergewaltiger? Ich weiß, dass ich mich jetzt auf sehr dünnes Eis begebe. Aber es geht dabei keineswegs um eine Vereinfachung. Es ist lediglich eine Analogie, die veranschaulichen soll, dass teilweise offenbar die kausale Wahrnehmung gestört ist. Ursachen und Folgen werden miteinander vermischt.

Es gibt verschiedene Sichtweisen. Zum einen die der Provokation. Erinnern Sie sich an den Tag, an dem Wolodymyr Selenskyj eine Rede über die Möglichkeit hielt, das Budapester Memorandum für ungültig zu erklären? Darin hatte sich die Ukraine dazu bereit erklärt, ihr Atomwaffenarsenal – das drittgrößte der Welt – im Gegenzug für Sicherheitsgarantien aufzugeben.

Ich weiß um die Reaktionen weltweit, nicht nur in Russland: Es war, als ob er Wladimir Putin mit solchen Äußerungen nur anstacheln wollte. So sehr ich mit den Gründen und der Notwendigkeit dieser Äußerung zu diesem Zeitpunkt nicht einverstanden bin, so wenig kann ich es ertragen, wenn nun lauthals beklagt wird, der ukrainische Präsident habe Putin provoziert.

Kommentar zum Krieg: Ukraine darf nicht einknicken

Denn am Ende des Tages sieht es so aus, als würde man einem Opfer sexueller Gewalt sagen, dass ihr Rock zu kurz oder ihr Make-up zu grell war, und dies als Aufforderung zum Missbrauch zu verstehen sei. So funktioniert es einfach nicht, oder?

Auf der anderen Seite wird gefordert, Selenskyj und die Ukrainerinnen und Ukrainer sollten Putin einfach geben, was er will: entweder besetzte Gebiete oder das ganze Land, oder eine Änderung des politischen Systems und die Einsetzung eines Marionettenregimes. Nur um ihn zu beruhigen und zufriedenzustellen, damit er aufhört.

Ist das nicht dasselbe, als würde man dem Opfer sagen, es solle sich nicht wehren und verteidigen, sondern dem Täter erlauben, mit dem weiterzumachen, was er, weiß Gott wie lange, tut? Nun, für mich sieht das ziemlich gleich aus.