Krieg in der Ukraine„Die Geflüchteten in Deutschland haben Angst, sie sind gefangen“

Ein junges Mädchen, das aus der Ukraine geflohen ist, läuft Mitte Juli in Warschau an mehreren Kinderzeichnungen vorbei, auf denen „Frieden“ und „Liebe“ steht. Viele Familien sind gefangen zwischen dem Wunsch, zurückzukehren und der Angst vor der Notwendigkeit, sich etwas Neues aufzubauen.

Ein junges Mädchen, das aus der Ukraine geflohen ist, läuft Mitte Juli in Warschau an mehreren Kinderzeichnungen vorbei, auf denen „Frieden“ und „Liebe“ steht. Viele Familien sind gefangen zwischen dem Wunsch, zurückzukehren und der Angst vor der Notwendigkeit, sich etwas Neues aufzubauen.

Unsere ukrainische Kollegin, die Journalistin Yuliia Dysa, schreibt in einer regelmäßigen Kolumne über ihre ganz persönlichen Gedanken und Gefühle während des schrecklichen Krieges in ihrer Heimat sowie über das Leben ukrainischer Geflüchteter.

von Yuliia Dysa  (yd)

Ein paar Mal im Monat wird mir diese Frage von meinen Familienmitgliedern gestellt: „Kannst du es glauben, dass es schon 3, 4 oder 5 Monate (hier kommt es nicht auf die genaue Zahl an) her ist, seit der Krieg in der Ukraine begonnen hat?“ Dabei tut jeder sein Bestes, um diese Frage zu vermeiden – denn in Wirklichkeit möchte niemand eine Antwort darauf geben oder auch die Antwort hören.

Wissen Sie, die aktuelle Situation anzuerkennen, das ist im Moment wohl das Schwierigste und Unerträglichste. „Wie? Nach all dieser Zeit“, mag man da fragen. Ja, ich denke, das klingt für einen Außenstehenden sicherlich völlig unverständlich.

Aber die Sache ist die: Ukrainische Geflüchtete sind in dieser Situation gefangen, in der sie den unbändigen Wunsch hegen, zurückzukehren – und andererseits Angst davor haben, das Notwendige zu tun, nämlich an ihrem aktuellen Aufenthaltsort etwas Lebendiges, Neues aufzubauen (soweit das überhaupt möglich ist). Hinzu kommt, dass diese Notwendigkeit oft von staatlichen Institutionen diktiert wird, nicht einmal vom eigenen Herzen oder dem eigenen Verstand.


Hier finden Sie weitere Kolumnen und Artikel unserer ukrainischen Kollegin Yuliia Dysa.


Eine einfache Regel kommt mir beim Schreiben dieser Zeilen in den Sinn, eine, die wir alle kennen: Um ein neues Leben zu beginnen, muss man mit dem vorherigen abschließen. Das ist einfacher gesagt als getan – das wissen wir auch. Aber die Ukrainerinnen und Ukrainer scheinen sich da in einer ganz anderen Dynamik zu befinden, wenn nicht der geringste Wunsch besteht, das aufzugeben, was sie alle vor dem 24. Februar hatten.

Ukraine: „Es fühlt sich an, als würde man alles, was man zu Hause erreicht hat, aufgeben“

Doch dieses Gefühl ändert nichts an dem Prozedere, welches jeder und jede Geflüchtete auf sich nehmen muss. Und das macht den bürokratischen Alltag sicher nicht einfacher. Alle Registrierungs- und Abwicklungsprozesse (wenn man das so sagen kann) sind für sich gesehen schon eine solche Belastung. Hinzu kommt eben noch diese psychologische Ablehnung, die innere Verweigerung, von der ich gesprochen habe...

Und auch wenn man bedenkt, dass das alles für eine vorübergehende Zeit passieren muss, sind viele Geflüchtete frustriert. Denn jeder einzelne Schritt – von der Beantragung des sogenannten Asyls über den Besuch eines Sprachkurses, die Anmietung einer Wohnung, ihrer Einrichtung, bis hin zur Schulplanung für das Kind – fühlt es sich irgendwie so an, als würde man alles, was man bereits Zuhause erreicht hat, aufgeben. Auch wenn es nicht so ist.

In den letzten Monaten übernachte ich ab und zu bei meiner Mutter und meiner Schwester in Duisburg. Und es ist ein Witz, dass bei jedem Besuch ein neuer Brief vom Jobcenter auf mich wartet. Normalerweise so etwa 14 Seiten, komplett in Deutsch. Warum auch nicht. Und was ich sehe, wenn ich die beiden beim Lesen und Ausfüllen dieser Formulare beobachte, ist weniger Erschöpfung oder Verwirrung als vielmehr dieses unsichere, trügerische Gefühl, von dem ich spreche.