Die Ukraine holt sich ihr Land zurückRussland plant auf Telegram schon den nächsten radikalen Schritt

Soldaten der russischen Armee marschieren im JUli 2022 in Wolgograd: Die russische Führung widerspricht Gerüchten, sie plane eine Generalmobilmachung der Streitkräfte.

Soldaten der russischen Armee marschieren im Juli 2022 in Wolgograd: Die russische Führung widerspricht Gerüchten, sie plane eine Generalmobilmachung der Streitkräfte.

Inmitten der jüngsten ukrainischen Erfolge auf dem Schlachtfeld findet in Russland eine Diskussion darüber statt, wie man das Blatt wenden kann. Plant der Kreml jetzt den nächsten radikalen Schritt?

von Yuliia Dysa  (yd)

Angesichts der spektakulären und überraschenden ukrainischen Gegenoffensive in den letzten Wochen wird der Kreml von rechtsgerichteten Patriotinnen und Patrioten für sein zu nachsichtiges militärisches Vorgehen kritisiert und – was eine Folge davon ist – zur Generalmobilmachung aufgerufen. Noch inoffiziell. Bislang dementiert der Kreml jegliche Pläne.

An dem Tag, an dem es der ukrainischen Armee gelang, die Macht in einigen wichtigen Bezirken der zuvor besetzten Region Charkiw zu übernehmen, wurden die russischen Telegram-Kanäle, die sich mit Krieg und Politik befassen, von einer Welle der Wut, des Unverständnisses, des Mitleids und von Appellen verschiedenster Art überschwemmt.

Ukraine-Krieg: Russische Politikerinnen und Politiker sprechen von Generalmobilmachung

Die meisten davon – wie auch die ukrainische Gegenoffensive – scheinen sich um die Möglichkeit einer Generalmobilmachung zu drehen, sowohl militärisch als auch wirtschaftlich. Es werden verschiedene Argumente angeführt, um die Notwendigkeit eines solchen Schrittes darzulegen.

Oft stammen die Informationen, die in den Telegram-Kanälen geteilt werden, aus unbestätigten Quellen. Doch mittlerweile äußern sich Politikerinnen und Politiker ganz offiziell.

Der Duma-Abgeordnete der Partei Einiges Russland („Jedinaja Rossija“), Michail Scheremet, der übrigens Mitglied des Ausschusses für Sicherheit und Korruptionsbekämpfung ist, vertritt zunächst die Auffassung, dass „wir ohne eine vollständige Mobilisierung, einschließlich einer ausschließlich auf Krieg ausgerichteten Ökonomie, in der Ukraine nicht die richtigen Ergebnisse erzielen werden“.

Russland: Forderung bei Telegram - „Brauchen Generalmobilmachung“

Einen Tag später versucht der Vorsitzende der Kommunistischen Partei, Gennadi Sjuganow, die Initiative zu ergreifen, indem er daran erinnert, dass „die militärisch-politische Operation gegen die Nazis, die Bandera [Stepan Bandera war ein bekannter ukrainischer Politiker und Partisanenführer im Zweiten Weltkrieg, Anm. d. Red.], die Faschisten in der Ukraine sich in einen vollwertigen Krieg verwandelt hat, der uns von den Amerikanern, der Nato und dem vereinten Europa erklärt wurde“. Dies, so glaubt er, erfordert eine angemessene Antwort.

„Wir befinden uns in einem Krieg, nicht in einer speziellen Operation. Wir brauchen eine Generalmobilmachung“, sagt Sjuganow.

Unterdessen schweigen die Militärs, was nicht weiter verwunderlich ist. Der Pressesprecher des russischen Präsidenten, Dmitri Peskow, muss sich der Frage nach einer solchen Möglichkeit ganz allein stellen. Und er tut es – mit seinen alten Tricks. „Im Moment, nein, es gibt keine solchen Diskussionen im Kreml“, antwortete er heute früh auf eine entsprechende Frage.

Russland: Rufe nach Generalmobilmachung unpopulär in Gesellschaft

Russische Medienfachleute wissen: Wenn Peskow ‚nein‘ sagt, sollte man es oftmals als ‚ja‘ verstehen. Das hat sich mehr als einmal bewahrheitet, etwa zu Beginn des Krieges: Noch am 24. Februar dementierte Putins Sprecher direkt eine solche Möglichkeit.

Aufrufe zu solch einer Generalmobilmachung und die endgültige Anerkennung der von den Russen sogenannten „speziellen Militäroperation“ als Krieg sind keineswegs neu. Aber sie tauchen immer häufiger auf, obwohl derlei Ideen in der russischen Gesellschaft als sehr unpopulär gelten.

Russland: Ist die Gesellschaft wirklich bereit, mit voller Kraft in den Krieg zu ziehen?

Doch bislang scheinen die Aufrufe wenig an der öffentlichen Meinung zu ändern: Die meisten Russinnen und Russen empfinden die militärischen Entwicklungen weiterhin eindeutig als etwas Gutes – weit weg in ihrem Alltag und nicht direkt mit ihnen verbunden.

Dennoch scheint die Möglichkeit einer Generalmobilmachung angesichts der aktuellen Entwicklung auf dem russischen Schlachtfeld nicht allzu abwegig.

Doch ist die russische Gesellschaft und Wirtschaft wirklich bereit, mit voller Kraft in einen Krieg zu ziehen? Auch wenn die Wahrscheinlichkeit dafür immer größer wird: Die Gesellschaft wäre über eine solche Generalmobilmachung nicht erfreut. Und auch wirtschaftlich wäre sie für das angeschlagene Land eine weitere massive Belastung. Doch wie sehr wird eine Regierung, die unter Druck steht, diese Aspekte in ihre derzeitigen Überlegungen mit einbeziehen?