Seit Jahren haben die Chemnitzer auf diesen Tag hingearbeitet. Nun beginnt das Jahr als Kulturhauptstadt Europas. Wie viel «kultureller Leuchtturm» steckt im einstigen Karl-Marx-Stadt?
Kultur in EuropaMarx, Munch und viele Macher: Chemnitz ist Kulturhauptstadt
West-Berlin, Weimar, Essen und nun Chemnitz: Zum vierten Mal stellt Deutschland eine europäische Kulturhauptstadt. Das frühere Karl-Marx-Stadt lädt unter dem Titel „C the Unseen“ ein, bislang Ungesehenes zu entdecken und will die Macher-Mentalität seiner Einwohner unter Beweis stellen. Der Bundespräsident wirbt für Chemnitz, aber auch Rechtsextreme versuchen, die Bühne am Eröffnungstag zu nutzen. Wie viel Kultur steckt in Chemnitz?
Festivals, Ausstellungen, Konzerte, Performances, Theater und auch Sport: Gut 500 Seiten ist das Programmbuch dick. Rund zwei Millionen Besucherinnen und Besucher erwartet die Stadt im Laufe des Jahres, darunter viele Tagesgäste. Auf sie warten etwa eine große Ausstellung zum Maler Edvard Munch über das Thema „Angst“ und ein Kunstpfad „Purple Path“, der die Stadt mit dem Umland verbindet. Garagen werden als Orte des sozialen Austauschs und Erfindungsreichtums in den Fokus gerückt. Eine Marathon-Strecke soll mit Musik von Klassik bis Elektro zur längsten Bühne der Welt werden.
Bundespräsident: Wer Chemnitz nicht kennt, hat viel verpasst
Die sächsische Stadt habe einen ganz anderen Ansatz als frühere Kulturhauptstädte, betonte Programmgeschäftsführer Stefan Schmidtke. „Das Programm kommt von den Menschen aus Chemnitz und der Kulturhauptstadtregion, ihren Initiativen und ihren Ideen.“ Chemnitz wolle sich als lebendige und vielfältige Stadt mit Narben und Brüchen zeigen, erklärte Oberbürgermeister Sven Schulze (SPD). „Sie werden hier keine Hochglanzbroschüre vorfinden.“
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier rief beim Festakt dazu auf, die Stadt zu entdecken. „Wer Chemnitz bisher nicht gesehen hat, wer es nicht kannte, der hat bereits viel verpasst.“ Im Kulturhauptstadtjahr gehe es darum, aus Unterschieden zu lernen und gemeinsam Zukunftsweisendes zu entwickeln. „Dort, wo sich die große demokratische Mitte unseres Landes Räume schafft, dort ist für Verächter der Demokratie kein Platz.“ Von Chemnitz könne das Signal eines neuen Miteinanders ausgehen, erklärte Steinmeier bei der Eröffnungsshow am Abend: „Das Signal: Zukunft machen wir gemeinsam.“
Zehntausende Menschen haben den offiziellen Start ins Kulturhauptstadtjahr gefeiert. Bei einer großen Bühnenshow am Karl-Marx-Monument traten Musiker wie Bosse, Paula Carolina, Omar Massa und Fritz Kalkbrenner auf. Eröffnet wurde die Gala unter freiem Himmel mit sphärischen Bläserklängen, die von Hochhausdächern ringsum erklangen. Zudem wurde auf der Bühne getanzt - Ballett bis Hip Hop. Zuvor hatten 120 Freiwillige eine historische Lokomotive gezogen - als Symbol des gemeinsamen Anpackens und Verweis auf die reiche Industriegeschichte der Stadt.
Bunter Gegenprotest gegen Demo von Rechtsextremen
Doch Chemnitz trägt ein schweres Erbe. Unvergessen sind die Bilder, die bei Ausschreitungen von Rechtsextremen im Spätsommer 2018 von hier um die Welt gingen. Damals kam es zu rassistischen Angriffen.
Rechtsextreme demonstrierten am Eröffnungstag gegen Chemnitz als Kulturhauptstadt - nicht ohne Gegenprotest. An dem Aufzug der rechtsextremistischen Kleinstpartei Freie Sachsen nahmen laut Polizei rund 400 Menschen teil. Innerhalb des Aufzugs sei Pyrotechnik gezündet worden. Wegen „ausländerfeindlicher Gesänge und Rufe“ werde wegen Volksverhetzung ermittelt, hieß es. An einer Gegendemo nahmen laut Polizei rund 1.000 Menschen teil. Sie traten für eine Stadt mit Weltoffenheit, Vielfalt und Respekt untereinander ein.
Ziel: Die „stille Mitte“ der Gesellschaft aktivieren
Oberbürgermeister Schulze verteidigte die Entscheidung, den rechten Aufzug zuzulassen. Meinungs- und Demonstrationsfreiheit sei ein sehr hohes Gut. Dazu gehöre, dass auch Dinge zugelassen würden, deren Inhalte viele unerträglich fänden. „Ich hoffe und wünsche mir sehr, dass wir heute zeigen können, wo die Mehrheit steht.“
Erklärtes Ziel der Kulturhauptstadt ist es, die „stille Mitte“ der Gesellschaft zu aktivieren. Aber der Titel ist auch ein Stadtentwicklungsprojekt. Rund 100 Millionen Euro fließen den Angaben nach als Fördergelder, etwa 60 Millionen davon in sogenannte Interventionsflächen.
So wurde eine ehemalige Fabrikruine per öffentlich-privater Partnerschaft zum repräsentativen Besucherzentrum, das einstige Elternhaus des Malers und „Brücke“-Mitbegründers Karl Schmidt-Rottluff wird saniert und zu einem Museum und Begegnungsort. Derweil erhält ein altes Straßenbahndepot als „Garagen-Campus“ mit Projekt-, Veranstaltungs- und Kreativräumen ein zweites Leben.
„Chemnitz beschönigt nichts“
Er freue sich auf ein Jahr voller Feierlichkeiten, in denen die Vielfalt, die Identitäten und die Werte der Europäischen Union präsentiert würden, sagte EU-Kulturkommissar Glenn Micallef.
Mit Blick auf die erwartete Besucherzahl im Laufe des Jahres heißt es vom Hotel- und Gaststättenverband, Engpässe bei Hotels seien nicht zu befürchten. Wenn die Zimmer in Chemnitz selbst knapp würden, könnten Besucher auf Städte im Umland ausweichen, die gut an die Stadt angebunden seien. Insgesamt gebe es ein breites Angebot von der Jugendherberge bis zum 4-Sterne-plus-Hotel. Doch müssen Besucher an Wochenenden mit Großveranstaltungen mit höheren Preisen rechnen. Im Vergleich zu anderen Großstädten wie München, Köln oder Hamburg seien die Hotelpreise in Chemnitz moderat, so der Dehoga Sachsen.
Eines hat Chemnitz schon zu Beginn des Kulturhauptstadtjahres erreicht: Die Aufmerksamkeit ist weit über die Region hinaus groß. „Chemnitz ist cool“, schreibt etwa die Wochenzeitung „Die Zeit“. „Chemnitz verheimlicht nichts, Chemnitz beschönigt nichts. Chemnitz ist real.“ Und Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Bündnis 90/Grüne) zeigt sich beeindruckt vom Programm, das die Stadt zusammen mit mehr als 30 Kommunen in der Kulturhauptstadtregion aufgestellt hat. Es habe das Potenzial, „einen kulturellen Leuchtturm zu schaffen, der in ganz Europa wahrgenommen wird.“ (dpa)