Ausnahmeregisseur Steve McQueen gelingt mit „Blitz“ (Apple TV+) bemerkenswertes Antikriegskino aus der ungewöhnlichen Perspektive eines neunjährigen Ausreißers.
Ein neunjähriger Ausreißer im BlitzkriegDie Bomben sind ihm egal
Die Bomben fallen auf London, die Stadt wird zertrümmert. Während die Männer das Land an der Front verteidigen, schuften die Frauen tagsüber in den Waffenfabriken und suchen nachts Schutz vor den Luftangriffen der Nazis. Um die Kinder zu schützen, sollen sie aufs Land evakuiert werden. Dem neunjährigen George gefällt das überhaupt nicht. Der schwarze Junge büxt einfach aus, um zu seiner Mutter zurückzukehren: Mit „Blitz“ erzählt der oscarprämierte Starregisseur Steve McQueen (“12 Years A Slave“) ab 22. November bei Apple TV+ aus einer unkonventionellen Perspektive von den Schrecken des Krieges.
„Blitz“ ist ein aufwendig produzierter Film. Steve McQueen hat viel Wert auf eine genaue historische Rekonstruktion gelegt, auf stimmige Details, auf einen optisch konventionellen Rahmen. Erzählt aber wird alles andere als konventionell, nämlich aus der Sicht eines Jungen, der sich durch die Kriegswirren schlägt, der Freunde findet, Freunde verliert, für Plünderer arbeiten muss, in flüchtigen Begegnungen Hilfsbereitschaft und Hoffnung genauso erlebt wie Egoismus und Gewalt.
Verwirrung und Chaos als Erzählprinzip
Dabei will George, beeindruckend vom Newcomer Elliott Heffernan gespielt, nur nach Hause, in die familiären Geborgenheit, die ihm seine alleinerziehende Mutter Rita (Saiorse Ronan) und sein Großvater (Pop-Ikone Paul Weller) geben. Auf seiner an „Oliver Twist“ angelehnten Odyssee durch London werden viele Erzählstränge angedeutet, die meisten verlaufen sich schnell wieder in den Trümmern der Stadt.
Das mag verwirrend und chaotisch scheinen, ist aber erzählerisches Prinzip. Krieg ist verwirrend und chaotisch, nichts ist von Dauer. Im Überlebenskampf in einem Kriegsgebiet gibt es keine Gewissheiten, erst recht nicht für einen Neunjährigen. Wenn ihm ein Luftschutzwart (Benjamin Clémentine) mit großem Herzen hilft, kann ihn eine Passantin im nächsten Moment an eine Gaunerbande ausliefern.
Rassismus allerorten
Zumal George immer wieder erfährt, mit wie viel Rassismus die Gesellschaft durchwirkt ist und wie ungleich schwerer es ein schwarzer Junge im Alltag hat. Er wird angepöbelt und verscheucht, erlebt, wie eine indischstämmige Familie in einem Schutzbunker für alle Londoner beleidigt und ausgegrenzt werden soll. In einer Rückblende sieht man, wie Georges Vater nach einem ausgelassenen Abend mit seiner Mutter verhaftet (und deportiert) wird, weil er sich gegen einen weißen Mob wehrt.
Den Mythos vom Zusammenhalt aller Briten in den Tagen des Blitzkriegs, den bringt Steve McQueen jedenfalls gehörig ins Wanken. Auch wenn sie sich hin und wieder Feel-Good-Momente erlaubt und sich klischeehafter Motive bedient: Erbaulich ist die eindringliche Mutter-Sohn-Geschichte nicht. Eher eine durchaus ernste Abrechnung mit dem Kolonialismus und all seinen vergifteten Früchten. (tsch)