Mitri Sirin„Ein eigenes Auto hat immer mit Freiheit zu tun“

Mitri Sirin reist für die „Am Puls“-Reportage „Nicht ohne mein Auto!?“ durch Deutschland und prüft, warum das eigene KFZ bei uns immer noch sehr hoch im Kurs steht. Was gibt uns „unser Auto“?

Mitri Sirin reist für die „Am Puls“-Reportage „Nicht ohne mein Auto!?“ durch Deutschland und prüft, warum das eigene KFZ bei uns immer noch sehr hoch im Kurs steht. Was gibt uns „unser Auto“? 

Reden wir Tacheles übers Auto! Obwohl das Gesellschafts-Narrativ davon ausgeht, dass wir dem Individualverkehr abschwören oder zumindest elektrisch fahren sollten - sieht die deutsche Realität anders aus. „Am Puls mit Mitri Sirin: Nicht ohne mein Auto!?“ erforscht, warum das so sein könnte.

Mitri Sirin, Sohn türkisch-syrischer Einwanderer, kam 1971 im Emsland zur Welt. Von dort zog er irgendwann nach Berlin - in seinem ersten Auto, einem Renault R4, in den überraschend viel reinpasste, wie sich der heutige ZDF-Morgenmagazin-Moderator im Interview erinnert. Auch heute noch, immer noch in Berlin lebend, besitzt der dreifache Vater und Familienmensch ein eigenes Auto. Warum ihm das so wichtig ist? Nun, in seiner Reportage „Am Puls mit Mitri Sirin: Nicht ohne mein Auto!?“ (Montag, 20. Mai, 19.20 Uhr, ZDF) setzt sich der ZDF-Anchorman mit der Frage auseinander, ob und warum wir Deutsche (zu) sehr am Auto hängen.

teleschau: Die Reihe „Am Puls“ geht tieferliegenden Phänomenen unserer deutschen Gegenwart nach. Liegt bei uns auch das Autothema tiefer?

Mitri Sirin: Autos waren und sind zu jeder Zeit ein wichtiges Thema in Deutschland. Vor allem, wenn es um „mein Auto“ geht. Nun findet gerade eine politische Diskussion statt, ob das Autofahren noch zeitgemäß ist. Und die bringt die Auto-Aficionados hierzulande ziemlich auf die Palme. Nach dem Motto: „Jetzt wollt ihr uns auch noch das Autofahren vermiesen!“ Wegen dieses Streits ist das Thema aktuell und auch, weil unser deutscher Wohlstand immer von der Autoindustrie abhing - und dieser Wohlstand nun eventuell in Gefahr ist.

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teleschau: Lassen Sie uns zunächst mit etwas Persönlichem beginnen. Sie zeigen und fahren in der Doku ihr erstes Auto - einen alten Renault R4. Wir sehen aber nicht das Original, oder?

Sirin: Nein, den hätte ich natürlich gern wiedergesehen. Und ich hatte das auch vorgeschlagen. Aber der Recherche- und Ressourcen-Aufwand wäre zu groß gewesen (lacht). Wir haben aber einen anderen R4 klargemacht, und ich konnte noch mal damit fahren. Was sehr bewegend war, denn ich fuhr das Auto acht oder neun Jahre. Ich bin damit vom Emsland nach Berlin umgezogen, wo ich seitdem lebe. Es war ein sehr geräumiger Wagen, in den viel reinpasste. Ich finanzierte ihn mit der Abfindung meines Zivildienstes. Es war ein tolles Modell mit Revolverschaltung, Faltdach und einer Weihnachtsbeleuchtung innen, die man an- und ausschalten konnte.

Deutsche Autoindustrie: Mit Verbrennern aus der Krise?

teleschau: Die Zahl der zugelassenen Fahrzeuge in Deutschland befindet sich derzeit auf Rekordniveau. Wie passt das zusammen mit der Idee, dass wir uns aus Umweltschutzgründen vom Individualverkehr verabschieden sollten?

Sirin: Das ist in der Tat widersprüchlich. Das Rekordniveau war ein Grund dafür, warum wir dem Thema nachgehen wollten. Man denkt ja, die junge und aufgeklärte Generation verzichtet mittlerweile aufs Auto. Und wenn nicht, dann gibt es Car-Sharing und so weiter. Das gilt jedoch nur für Metropolregionen, haben wir festgestellt. In Deutschland sind derzeit etwa 70 Millionen Fahrzeuge angemeldet. Davon sind 49 Millionen PKW. So viele, wie noch nie. Und die Tendenz ist steigend, sagen die Experten.

teleschau: Woran liegt das?

Sirin: Daran, dass es viele Regionen in Deutschland gibt, in denen der öffentliche Nahverkehr kaum ausgebaut ist oder schlecht funktioniert. Selbst wenn die politischen Signale anders aussehen: Unserer Recherche nach dürfte der Verbrenner noch auf Jahre, wenn nicht auf Jahrzehnte deutsche Realität bleiben.

teleschau: Dabei dachten wir doch, die Industrie würde nun auf Elektro umstellen ...

Sirin: Sie tut es nur zögerlich. Weil die deutsche Autoindustrie merkt, dass es hier noch einen großen Markt gibt und das Segment Elektro von Tesla und den chinesischen Herstellern schon stark besetzt ist. Deutsche Hersteller fahren deshalb eine Double-Hedge-Strategie. Sie wollen eine doppelte Absicherung mit Verbrennern und Elektroautos. Mercedes hat mal verkündet, bis zum Jahr 2030 aus dem Verbrenner aussteigen zu wollen. Neulich sagte der Mercedes-Chef, dass sie bis 2039 weiter produzieren werden. Genauso dürften es vermutlich auch die anderen Hersteller machen. Die deutschen Autobauer kommen gegenwärtig am besten aus der Krise, indem sie weiter Verbrenner verkaufen - so absurd es klingt.

Sirin: „Ich bin ein schrecklicher Im-Auto-Flucher“

teleschau: Ist der Autoboom vor allem auf dem Land zu Hause?

Sirin: Ja, aber das Klischee vom ländlichen Proleten, der sein Auto liebt und tunt, konnten wir im Film widerlegen. Wir waren im ländlichen Baden-Württemberg und ich habe dort unter den Autoliebhabern und Freaks sehr kluge und reflektierte Leute kennengelernt. Viele lehnen das E-Auto ab, weil seine Ökobilanz ebenfalls nicht immer gut ist, weil die Infrastruktur fehlt und die Kosten immer noch viel zu hoch sind. Man ist nicht per se gegen das E-Auto. Nur die Rahmenbedingungen stimmen eben nicht.

teleschau: Was gibt das Auto den Menschen emotional?

Sirin: Ein eigenes Auto hat immer mit Freiheit zu tun. Es steht für Unabhängigkeit, es ist aber auch ein Statussymbol. Nicht nur, aber auf jeden Fall auch unter Migranten. Ich weiß, wovon ich rede: Wenn wir früher mit dem Wagen von Deutschland in die Türkei zur Familie gefahren sind, war es schon wichtig, dass man dort einen schicken Wagen vorzeigen konnte. Alles andere wäre peinlich gewesen (lacht). Auch heute noch wollen junge Migranten über das Auto zeigen, dass sie es geschafft haben.

teleschau: Aber es sind nicht nur Migranten, die dicke Autos fahren ...

Sirin: Natürlich nicht. Aber es ist schon auffällig, wie viele junge Menschen, die es sich eigentlich nicht leisten können, viel Geld ins Auto stecken. Dafür Kredite aufnehmen und so weiter. Ein eigenes Auto hat viel mit Identität zu tun. Und es ist ein „safe space“, so wie die eigene Wohnung, die man vielleicht noch gar nicht hat. Das Auto wird zum Identifikations- und Rückzugsraum, in dem man schreien, fluchen oder einfach mal seine Ruhe haben kann, ohne dass es jemand mitkriegt. Ich weiß, wovon ich rede, denn auch ich bin ein schrecklicher Im-Auto-Flucher. Auch, wenn ich alles andere als stolz darauf bin.

teleschau: Haben wir Deutschen ein engeres Verhältnis zu unseren Autos als andere Nationen?

Sirin: Ein Alleinstellungsmerkmal haben wir Deutschen in unserer fetischhaften Liebe zum Auto sicher nicht. Was bei uns aber noch dazu kommt, ist vielleicht der nationale Stolz auf unsere Autos. Das Auto und einige Motortypen wurden in Deutschland erfunden. Noch genießen deutsche Autos im Ausland einen besonderen Ruf. Es ist ein bisschen wie beim Fußball. Die Deutschen identifizieren sich mit der Nationalelf, wenn sie gut spielt. Und genauso wollen wir, dass wir uns mit guten deutschen Autos identifizieren können.

teleschau: Und - können wir uns noch damit identifizieren?

Sirin: Na ja, die deutschen Autobauer stecken schon in der Krise. Wir leben momentan stark vom Export nach China. Das läuft zwar noch, aber durch immer mehr Reglementierungen, im Raum stehende Zölle und mögliche Handelskriege kann sich der Wind schon bald drehen. Momentan macht man in China und anderswo mit den Verbrennern noch gutes Geld. Wir glauben in Deutschland ja manchmal, die Welt würde ähnlich grün denken, wie es hier bereits Mainstream ist. Aber es ist wie mit der Atomkraft: Wir sehen sie viel kritischer als die meisten anderen Nationen. Egal, wie man das nun findet.

teleschau: Der Titel Ihrer Sendung lautet: „Nicht ohne mein Auto!?“ Wer kann und möchte denn nun ohne sein Auto leben?

Sirin: Eigentlich ist es nur die junge Generation in den Großstädten. Fast alle anderen, die wir befragt haben, sagten: „Auf keinen Fall möchte ich ohne mein Auto leben.“ Eine interessante Statistik sagt, dass 40 Prozent aller Fahrten in Großstädten unter fünf Kilometer liegen - und dass die größtenteils trotzdem mit dem Auto gefahren werden. Es ist eine Zahl, die mich wirklich erschreckt hat, denn das wäre ja nun gar nicht nötig.

teleschau: Haben Sie selbst ein eigenes Auto?

Sirin: Ja, und auch ich benutze es noch zu oft. Die vielen Autos in unseren Städten verursachen auch Platzprobleme. Neulich fanden Straßenbauarbeiten bei uns im Viertel statt, alle Autos mussten weg von der Straße. Also haben die Menschen ihre Wagen umgeparkt. Auf einmal sah unsere gesamte Straße anders aus. Alles war so schön leer und stimmungsvoll, die Bäume so grün. Wir haben herausgefunden, dass ein Auto in Berlin 23 Stunden pro Tag einfach nur geparkt herumsteht. Was für eine Verschwendung von Platz und Ressourcen. Und wie schön könnten unsere Städte sein, wenn nicht überall diese Fahrzeuge wären. (tsch)