Der Frankfurter „Tatort: Erbarmen. Zu spät.“ zitiert eine Stadionhymne, ist aber ein äußerst dunkler Fall. Wurde tatsächlich ein Polizist ermordet und im Wald verscharrt, wie ein unzuverlässiger Zeuge erzählt?
Frankfurter „Tatort“Brutaler Mord an einem Polizisten – alles nur Einbildung?
Kurz nach dem Ende der Sommerpause 2023 kommt aus dem experimentierfreudigen Hause des Hessischen Rundfunks ein sehr besonderer „Tatort“ mit den Frankfurter Kommissaren Janneke (Margarita Broich) und Brix (Wolfram Koch).
Dabei dürfte der Titel des Krimis auf einen Song anspielen. Seit 1984 gibt es die in ihren Textdetails immer noch derb-komische Partyhymne „Die Hesse komme“ der Rodgau Monotones. Ein Lied, das heute noch vor jedem Heimspiel der Frankfurter Eintracht im Stadion gespielt wird. Der „Tatort: Erbarmen. Zu spät“ zitiert die Härte der Hessen zwar im Titel, erzeugt aber eine gänzlich andere Stimmung als der knapp 40 Jahre alte Kultsong.
Frankfurter „Tatort“: Wurde tatsächlich ein Polizist ermordet
Dennoch könnte auch der mittlerweile 17. Krimis mit Janneke und Brix Kult werden, denn „Erbarmen. Zu spät“ ist ein außergewöhnlicher TV-Film. Einer, der eine Stimmung erzeugt, wie man sie so im deutschen Krimi-Premiumprodukt vielleicht noch nie erlebt hat – trotz der vielen „besonderen“ Werke, die unter dem Markenmantel des „Tatorts“ in mittlerweile fast 53 Jahren entstanden sind.
Doch zur Handlung des Film, der bis auf die Schlussszenen binnen einer Nacht und damit fast ausschließlich im Dunkeln spielt. Das Drehbuch Bastian Günthers (auch Regie) begleitet zu Beginn einen gelangweilten Polizisten beim Streifendienst. Simon Laby (Sebastian Klein) lauert mit seinem Dienstfahrzeug am Waldrand auf Temposünder, er ermahnt sanft ein paar kiffende Jugendliche an der Nachttanke und telefoniert dazwischen mit seiner schwangeren Frau.
Nach dem Prolog bricht diese Erzählung ab, denn Simon Laby soll einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein. Seine Leiche habe man in der wald- und ackerreichen Region der Wetterau nahe Frankfurt verscharrt.
Dies alles behauptet ein gewisser Schilling (Niels Bormann), der sich bei der Polizei gemeldet hat, weil er – wie er sagt – bei der Tat zugegen war. Dies allerdings im stark angetrunkenen Zustand, weshalb der labile Mann Mühe hat, Kommissar Brix den Ort, an dem die Leiche liegt, zu zeigen. Ist ja auch nicht leicht, wenn die Nacht auf dem Lande stockdunkel und nur in Ausschnitten von den Scheinwerfern eines Polizeifahrzeugs beleuchtet wird.
„Young Boys Bern ... wer kommt denn auf so einen Namen?“
Über die erste Hälfte seines Krimis mit Westernmotiven entwickelt Bastian Günther, dessen philosophischer Murot-„Tatort: Wer bin ich?“ mit Ulrich Tukur 2015 ebenfalls Geschichte schrieb, seinen zweiten hessischen Krimi zu einem starken Roadmovie mit Polizisten, die durchs Dunkel fahren. Urbane „Nachtfilme“ gibt es ja bekanntlich viele. Doch das Erkunden der Natur, der nächtlichen Wälder, Äcker und Straßenränder – übrigens wunderbar ausgeleuchtet – erzeugt hier eine ganz besonders einnehmende Atmosphäre.
Dazu erzählen sich die lakonischen Polizistenfiguren im Wagen (unter anderem: Karsten Antonio Mielke und Uwe Rohde) großartige Anekdoten, die zum Teil ins Leere laufen und dennoch in Kopf und Seele des Zuschauers hängenbleiben.
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Oft wirkt „Erbarmen. Zu spät.“ wie ein amerikanischer Indie-Film mit Hemingway-artigen Nachtgestalten. Ein Film, der sämtliche Krimiklischees des deutschen Fernsehens weit von sich weist.
Dazu passt, dass der abwechselnd in Berlin und Texas lebende Filmemacher Bastian Günther, früher mal Assistent bei Christian Petzold, den Soundtrack der nächtlichen Suche von der texanischen Retro-Elektronikband Dallas Acid komponieren ließ, deren minimalistische Krautrock-Klänge einen schönen Gegensatz zu den nächtlichen Naturaufnahmen bilden.
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Über das „Thema“ des Krimis, das sich erst in der zweiten Hälfte des Films ergibt, sollte man zu Anfang möglichst wenig wissen. Erwähnen muss man aber, dass der wie immer bärenstarke Godehard Giese in Hälfte zwei einen Mann spielt, den der diesmal klar im Vordergrund stehende Ermittler Brix von früher gut kennt.
Wie subtil Bastian Günthers „Tatort“, dessen vorheriger Film „One Of These Days“ 2022 bei der Berlinale lief, funktioniert, merkt man manchmal an winzigen Details.
So läuft im Hintergrund der nächtlichen Suche nach dem Leichnam – kaum wahrnehmbar – eine Fußball-Radioreportage. Irgendwann fragt Brix, wie das Spiel der Eintracht ausgegangen sei. „2:2“, heißt es. „Ach, scheiße“, antwortet Brix. „Gegen wen haben sie gespielt?“, fragt der Unwissende.
„Young Boys Bern“, sagt Brix. Daraufhin sein Gesprächspartner: „Young Boys Bern ... wer kommt denn auf so einen Namen?“. Auch so kann man starke Filmszenen schreiben. Es dürfen auch mal Fragen offenbleiben. (tsch)