Eine seltsam zugerichtete Leiche stellt die Zürcher Kommissarinnen vor Rätsel: Im Schweizer „Tatort: Schattenkinder“ geraten die Ermittlerinnen in den grotesken Sog einer Künstlerkommune. Einmal mehr erfahren sie dabei nicht nur etwas über den Fall, sondern auch viel über sich selbst.
ARD-„Tatort“Vorsicht verstörend – „Schattenkinder“ tut beim Hinsehen weh
Wer nach den ersten Episoden des Schweizer „Tatorts“ aus Zürich ein Fazit über die eidgenössische Stimmungslage ziehen wollte, dürfte mit folgendem gut bedient sein: Zwischen hübschen Bergen, pittoresken Örtchen und allgemeinem Wohlstand geht es auch in der Alpenrepublik bisweilen abgründig zu.
Bereits die Premierenfolge 2020 hatte vergleichsweise schonungslos auf soziale Proteste und Polizeigewalt geblickt, der zweite Krimi im letzten Jahr dann die Kehrseite des Schweizer Reichtums herausgestellt. Und auch wenn jene gewagte politische Schlagseite, die vor allem der Regisseurin Viviane Andereggen zu verdanken war, im aktuellen Fall des Kommissarinnen-Duos weniger zum Vorschein kommt.
Abermals begeben sich Tessa Ott (Carol Schuler) und Isabelle Grandjean (Anna Pieri Zuercher) im „Tatort: Schattenkinder“, diesmal unter Regie von Christine Repond, in die düsteren Ecken einer bedrückend inszenierten Zürichsee-Metropole.
„Tatort: Schattenkinder“ (ARD, 13. März 2022): Darum geht es im Fall aus der Schweiz
So hängen die Wolken und der Nebel wieder schwer über einem seltsam farblosen Zürich, dessen malerische Altstadt aus beeindruckenden Vogelperspektiven beinahe bedrohlich wirkt. Ganz zu schweigen von den industriellen Rändern der Stadt, die fast an einen Nordic-Noir-Thriller erinnern. Dazu passt dann auch, dass in einem verlassenen Fabrikkomplex die seltsam entstellte Leiche von Max Gessner (Vincent Furrer) an der Decke baumelt, eingepackt in einem weißen Kokon.
Gefunden wurde der Tote von seinem Vater, einem bekannten Schönheitschirurgen (Imanuel Humm), nach einem anonymen Hinweis. Sein Sohn, den er jahrelang nicht gesehen hat, ist am ganzen Körper ziemlich zugerichtet, Striemen und Gesichtstattoos geben Rätsel auf. Anmerkung für ambitionierte Thriller-Schreiber: Die vollständig dunkel tätowierte Hornhaut der Augen sorgt immer für den gewünschten Horroreffekt – inklusive Gänsehaut beim Zuschauer.
Noch während sich die Ermittlerinnen fragen, ob sie es mit einem Ritualmord zu tun haben, stoßen sie auf des Toten letzte Wohnstätte – eine Künstlerkommune, die so aussieht, wie sich „Tatort“-Schöpfer nun mal solche Kommunen vorstellen: obskure Performances, rätselhafte Dialoge, exzessive Partys, Rituale und natürlich eine Anführerin.
Letztere ist die sicherlich als „charismatisch“ ins Drehbuch geschriebene Kyomi (Sarah Hostettler), die ihre Kunstobjekte mit raunenden Kommentaren bearbeitet und verfremdet. Kaum der Rede wert, handelte es sich bei ihren „Objekten“ nicht um die Bewohner der sektenhaften Kommune und somit um Menschen. Die haben – wie das spätere Opfer Max – oft nach schlimmen Lebenserfahrungen ihren Weg zu Kyomi gefunden, die ihnen „helfen“ will – ihre Körper dafür allerdings als Material betrachtet. Entsprechend werden Köpfe kahlgeschoren, weiße Gewänder angezogen, aber eben auch Gesichter und Augäpfel tätowiert.
„Tatort: Schattenkinder“ (ARD, 13. März 2022): Das tut beim Hinsehen weh
Was schon beim Hinsehen wehtut, ist für die Künstlerin verstörendes Programm: „Wir müssen mit dem Schmerz in Verbindung treten“, sagt Kyomi. Traumatisierte als Gegenstände, die ihre Namen und Gesichter ablegen und sich so den Leiden ihrer Vergangenheit stellen – diese „Kunst“ kann man ästhetisch und moralisch fragwürdig finden.
So wie Grandjean: „Diese Frau entstellt junge Menschen für ihren persönlichen Erfolg“, urteilt die Ermittlerin, abgestoßen vom unendlichen Pathos der Kommune, der bisweilen auf die Filmstimmung abfärbt. Perfektes Futter für die schon in den ersten beiden Krimis ausführlich thematisierten Unterschiede zwischen den Kommissarinnen: „Ich finde interessant, was sie macht“, entgegnet Kollegin Ott, die auch im dritten Krimi ihre irgendwie irritierende Rolle abseits der Norm erfüllt. Privat trinkt sie gerne mal einen, schaut depressiv umher, kämpft mit den Erinnerungen an ihren Selbstmordversuch.
Auch die Folgen des Schusses, mit dem Ott in der letzten Episode einen Menschen tötete, wirken nach – das horizontale Erzählen hat es den Zürchern angetan. Zwar sei es Notwehr gewesen, wie ihr interne Ermittlungen bescheinigen. Gegessen ist das Ganze aber noch nicht: Ihre Diensttauglichkeit muss von den Kollegen beurteilt werden, allen voran von Grandjean („Ott ist impulsiv“), die abermals als verlässliche Figur gegenübergestellt wird, die sich im Griff hat.
„Bei den Bullen bleibt nichts privat“, beschwert sich Ott über die Untersuchung; „Ich muss mich auf meine Partnerin verlassen können“, verleiht Grandjean ihren alten Sorgen Ausdruck. Man kann nur hoffen, dass diese grundsätzlich sympathischen Charaktere in den kommenden Schweiz-Krimis nicht im hölzernen, doch bequemen Korsett der Gegensätze verharren.
Den Ermittlungen jedenfalls scheinen die Widersprüche zu nützen: Grandjean nimmt Kyomis gierig gezeichneten Hipster-Galeristen Bruno Escher (Fabian Krüger) in Visier, der die Künstlerin durch den Mordfall noch besser vermarkten kann und der wohl die Skrupellosigkeit des Kunstmarktes symbolisieren soll („Ich krieche euch so lange in den Arsch, bis ich endlich Licht sehe“).
Derweil widmet sich Ott dem recht wirren Denken der allseits bekannten Künstlerin, deren Happenings sie besucht und von der sie offensichtlich so fasziniert ist, dass es Grandjean Sorgen bereitet. Das Private ist in Zürich immer auch kriminalistisch – und umgekehrt. Führte die Ideologie der Selbstauslöschung Max – in der Kommune Cosmo genannt – in den Tod? Welche Rolle spielt sein Vater? Und was hat es mit dem rätselhaften Mann namens Konrad auf sich, den Max in wirren Aufzeichnungen und (ziemlich überflüssigen) Video-Tagebüchern erwähnt?
„Tatort: Schattenkinder“ (ARD, 13. März 2022): Lohnt sich das Einschalten?
Man muss bei diesem ARD-Krimi von einigem absehen, um ihn wirklich gut zu finden: von den klischeehaften Vorstellungen von kriminellem Hackertum, das anscheinend nie ohne verfremdete Stimmen, unpassende Überwachungskameraoptik und schwarze Motorradfahrer auskommen kann; von den nicht minder tausendfach durchdeklinierten Bildern exzentrischer Untergrund-Künstlerinnen und devianter Sekten (die immerhin auch als Kritik aussageloser Performancekunst gelesen werden könnten); aber auch von der meist vorhersehbaren Dynamik des ungleichen Ermittlerinnen-Duos, das sich in den Polen Vernunft versus Unvernunft zu erschöpfen droht. „Mir sind Fakten lieber als Instinkt“, fasst Grandjean selbst an einer Stelle zusammen.
Rückt man all dies in den Hintergrund, bleibt ein gerade in Richtung Finale spannender und mitreißend inszenierter „Tatort“, der die Verführbarkeit junger Menschen und deren schamloses Ausnutzen durch sogenannte Erlöser thematisiert. Und das in einer noch immer vielversprechenden Reihe mit zwei Ermittlerinnen, die ihr Potenzial längst nicht ausgeschöpft haben.
„Die beiden Kommissarinnen sind nicht nur vor der Kamera ein Team, sondern auch dahinter. Sie besitzen Sensibilität, Mut und Humor, was die Arbeit mit ihnen sehr angenehm macht“, verrät Regisseurin Christine Repond über den Dreh. Als eigentlicher Star entpuppt sich aber wieder die Düsterheit einer sonst vom Schicksal geküssten Stadt, die sich wohl auch künftig von einer anderen Seite zeigen wird. Es sei ihr wichtig gewesen, „Zürich stärker und etwas ungewohnter sichtbar werden zu lassen“, so Repond, die mit „Schattenkinder“ nach zwei Kinoerfolgen ihren ersten „Tatort“ überhaupt inszenierte.
Auch für den nächsten Schweizer „Tatort“ zeichnet die gebürtige Baslerin und Wahlmünchnerin verantwortlich. Angekündigt für den Herbst 2022 unter dem Titel „Risiken mit Nebenwirkungen“, ermitteln Grandjean und Ott dann im Fall einer ermordeten Anwältin, die ein Pharmaunternehmen bei der Lancierung eines neuen Medikaments beriet. Zürich und die Schweiz haben, so viel ist sicher, noch einige Abgründe zu bieten. (tsch)