Dieser Krimi ist nichts für schwache Nerven: Im Kölner Tatort ermitteln Max Ballauf und Freddy Schenk im Fall einer ermordeten Obdachlosen – der Fall entführt sie in eine triste Welt voller Gewalt.
Kölner „Tatort“Arm, weiblich, obdachlos – ARD-Krimi zeigt die Brutalität der Straße
Außergewöhnlich ist die subjektive Perspektive, mit der Regisseurin Nina Wolfrum ihren „Tatort: Wie alle anderen auch“ (Erstausstrahlung 21. März 2022) beginnt: „Ich heiße Ella“, stellt sich die von Ricarda Seifried glaubwürdig gespielte Hauptfigur vor. Aus ihrer Sicht erfahren Zuschauende, was geschehen ist: Nachdem ihr Mann sie brutal geschlagen hatte, so zeigen es vage Rückblicke, floh Ella von zu Hause und muss nun, völlig mittellos, auf der Straße zurechtkommen.
Dabei hilft ihr die ältere Monika Keller (Rike Eckermann), die nach jahrelanger Obdachlosigkeit weiß, wie man draußen überlebt. Kurze Zeit später ist Monika tot, nachts wurde ihr Lager unter einer Brücke in Brand gesetzt. Hat die obdachlose Gertrud (Dana Cebulla) etwas damit zu tun, die Monika den lukrativen Platz zum Zeitungsverkauf an der Domplatte nicht gönnte? Und was beobachtete Ella, die noch versuchte, den Notruf zu wählen?
Kölner „Tatort“: Ella gerät in einen Teufelskreis
Schenk (Dietmar Bär) und Ballauf (Klaus J. Behrendt) übernehmen die Ermittlungen – wissen aber nicht, wo Ella steckt, die vom späteren Opfer noch einen geheimnisvollen Umschlag überreicht bekam.
Die Zuschauer, und das ist der Clou des Krimis, begleiten Ella die gesamte Zeit: In einem Restaurant hat die junge Frau einen Mitarbeiter angesprochen, der sie zunächst widerwillig bei sich aufnimmt. Bei Axel (Niklas Kohrt) kann sie untertauchen – nicht nur, um der Straße zu entgehen, sondern auch der polizeilichen Verfolgung. Denn Ella hat sich gegen ihren gewalttätigen Mann zur Wehr gesetzt. Dass sie auch bei ihrem Helfer vorsichtig sein muss, zeigt das ganze Dilemma auf: Einmal im Teufelskreis, werden Frauen am Rande der Gesellschaft immer wieder ausgenutzt, ausgebeutet – und vergewaltigt.
„Ich mache eigentlich alles richtig“
Während Ballauf und Schenk im Umfeld der Toten ermitteln, öffnet sich ihnen die harte Realität, der obdachlose Frauen ausgesetzt sind: „Wissen Sie, was es heißt, als Frau auf der Straße zu leben?“, verweist Regine Weigand (Hildegard Schroedter), Leiterin eines Cafés für obdachlose Menschen, auf die oft vorkommenden Vergewaltigungen. Auch die später ermordete Monika hatte mehrfach einen Mann angezeigt, sie in einer Obdachlosenunterkunft vergewaltigt zu haben.
Welche Rolle spielt der Verdächtige (Jean-Luc Bubert)? Und welche die Altenpflegerin Katja Fischer (Jana Julia Roth), die laut Monika ebenfalls Opfer sexualisierter Gewalt wurde – dies aber gegenüber dem ihr verfallenen Assistent Norbert Jütte (Roland Riebeling) von sich weist?
Abonnieren Sie hier unseren täglichen EXPRESS.de-Newsletter:
Der Kölner Krimi erzählt von der Armut, in die von Männern abhängige Frauen geraten, von der dauernden Gefahr, als obdachlose Frau vergewaltigt zu werden, von virulenten gewaltvollen Bedrohungen, die Frauen im Überlebenskampf ganz unten zu den Schwächsten machen.
„Bei meinem Gehalt und meiner Schufa-Auskunft nimmt mich kein Vermieter“, sagt die Altenpflegerin, die trotz Arbeit in ihrem Auto leben muss. Sie fasst das Problem zusammen: „Ich mache eigentlich alles richtig.“ Eigentlich.
Nehmen Sie hier an unserer Umfrage zum „Tatort“ teil:
Immer wieder versucht der „Tatort“ zu umreißen, wie brutal die Welt da draußen wirklich ist. Dabei bleibt der Krimi bisweilen zwar in Klischees verhaftet, spricht zugleich aber immerhin tatsächliche Missstände an.
„Wir sind der letzte Dreck“, hört man die obdachlosen Trinker vorm Kiosk sagen: „Wenn von uns einer mal nicht spurt, kriegste alles gekürzt“. Auch Ballauf und Schenk fungieren, endlich mal wieder an der Würstchenbude, als sozialkritischer „Tatort“-Pranger: „Eine Billion Euro steckt unser Staat jedes Jahr in unser Sozialsystem. Und trotzdem müssen manche Rentner im Mülleimer nach Flaschen suchen. Kannst du mir mal sagen, was die die ganze Zeit mit dem ganzen Geld gemacht haben?“, lautet die ebenso plakative wie wichtige Kritik.
Starke Krimi-Wiederholungen im Juli
Auch wenn der Kölner „Tatort“ wie gewohnt mit kalauerndem Dialogwitz („Wir denken nicht, wir ermitteln" – „So kommt es mir manchmal auch vor“) und so manch gut gemeinter Plattitüde („Am Ende gewinnt immer die Straße“) daherkommt: Vor allem dank der Episoden-Hauptdarstellerin, die das verzweifelte Gefühl der Ohnmacht mitreißend vermittelt, bleibt das Thema auch lange nach dem Sonntagabend im Gedächtnis haften.
Gerade in den bislang verplanten, ersten Sommerpausen-Wochen des ARD-Sonntagabendkrimis stehen einige herausragende Filme der letzten Jahre auf dem Programm: Am 2. Juli läuft der mit dem Grimmepreis 2022 gekrönte „Polizeiruf 110: Sabine“ mit Charly Hübner und Anneke Kim Sarnau, am 9. Juli der ebenfalls sehr starke Dresdner Geister-„Tatort: Parasomnia“ und am 16. Juli die Münchener Folge „Tatort: Die Wahrheit“ von 2016, die eine Grimmepreis-Nominierung erhielt. Eine Woche später, am 23. Juli, ist dann der Berliner „Tatort: Dein Name sei Harbinger“ mit Meret Becker und Mark Waschle von 2017 zu sehen. (tsch)