Karrierecoach weiß es aus der Praxis„Hausmeister sind oft zufriedener als Chefs“ – Grund leuchtet ein

Karrierecoach Martin Wehrle

Karrierecoach Martin Wehrle berät aktuell vor allem „Aussteiger“, die aus dem Hamsterrad raus – oder auf der Karriereleiter eine Stufe runter wollen.

Von wegen: höher, schneller, weiter! Karrierecoach Martin Wehrle berät heute vor allem „Aussteiger“, die das Hamsterrad verlassen wollen.

von Andrea Kahlmeier  (ak)

Mehr Geld, mehr Erfolg und auf der Karriereleiter immer weiter nach oben, zack, zack! Das waren die Ziele, die Motivations-Gurus in den 90ern bedienten. Tschakka – und auf ging's über glühende Kohlen.

Heute sieht das ganz anders aus. Statt Karriere steht plötzlich die Lebensfreude bei den Life-Trainern im Vordergrund. „Und das ist auch gut so“, sagt Martin Wehrle. Der Karrierecoach macht mittlerweile eher eine Abstiegs- statt Aufstiegsberatung: „Raus aus dem Hamsterrad, rein in das Leben, das euch glücklich macht.“ Und er weiß, wovon er spricht ...

So viele Menschen sind todunglücklich in ihrem Job

Laut einer Pronova-Studie von 2024 sind knapp die Hälfte aller Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen unglücklich und machen nur noch Dienst nach Vorschrift. Sogar – oder gerade dann, wenn sie auf der Karriereleiter wieder eine Sprosse erklommen haben. Martin Wehrle wundert das nicht. „Es kommt heute nicht auf das gesellschaftliche Ansehen der Position an – sondern darauf, dass der- oder diejenige im Job glücklich und zufrieden ist. Und dass man einen gesunden Ausgleich zwischen Berufs- und Privatleben findet.“

Er selbst ist das klassische Beispiel für seine These, dass sich selbst Tiefpunkte im Leben auch als Glücksfall entpuppen können. Aber auch, dass Karriere nicht zwangsläufig glücklich macht. Schwerer Fahrradunfall mit 17, doppelter Schädelbasisbruch, deshalb doch keine Lehre, sondern weiter auf die Schule. Er schaffte es in jungen Jahren bis ins mittlere Management eines MDAX-Konzerns.

Aber Wehrle hatte irgendwann nur noch das Gefühl, „zwischen den Stühlen zu sitzen, Kreide fressen zu müssen und nicht das sagen zu können, was wirklich meine Meinung war“, erzählt er im Gespräch mit EXPRESS.de. Der Manager kletterte die Karriereleiter wieder runter, ging anfangs auch finanziell ein paar Schritte zurück, absolvierte die Akademie für Publizistik in Hamburg und startete sein neues Leben als Karrierecoach.

Er avancierte wegen seiner frechen Schreibe „gegen die da oben“ schnell zum Bestsellerautor, der auch dem einfachen Arbeiter aus der Seele spricht. „Ich habe eine große Umfrage im Auftrag eines Unternehmens gemacht“, erinnert er sich. „Raten Sie mal, wer am zufriedensten war? Der Hausmeister.“ Und dessen Sätze werden ihm für immer in Erinnerung bleiben: „Ich muss mich nicht wie ein Clown verbiegen, kein Chef schaut mir über die Schulter und schreibt mir vor, wie und wo ich Blumen pflanze.“

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Der Hausmeister – vielleicht ein Synonym für das, was Wehrle seinen Klienten predigt: „Es macht keinen Sinn, sich so lange befördern zu lassen, bis man weit von dem entfernt ist, was man ursprünglich mal gerne gemacht hat, stattdessen nur noch ein Betriebssystem verwaltet.“ Besser sei es, in sich hineinzuhören, was einem wirklich Spaß mache.

Weitere Tipps, um das neue Jahr mit neuem Schwung einzuläuten, präsentiert er in seinem aktuellen Bestseller „Dieses Buch verändert dein Leben für immer“:

  1. Nicht verstellen, sondern die Schwächen zur Stärke machen! „Nehmen wir Heinz Rudolf Kunze. Der sah mit 23 Jahren aus, wie ein Streber mit Kassengestell, redete wie ein Professor und nicht wie ein Rockstar, doch statt ihn umzumodeln, wurde das Oberlehrerhafte, also die vermeintliche Schwäche, zum Markenzeichen.“
  2. „Führe dir vor Augen, wie gut es dir geht, indem du dir vorstellst, ein Obdachloser könnte für einen Tag dein Leben führen“, rät er. „Der Mann hätte dein Bett, deine Kleidung, deine Freunde, dein Bankkonto ...“ Wer nur die Wahrnehmung darauf ausrichte, welche Mängel sein Leben, der Partner, der Job habe, werde auch im neuen Leben nicht glücklicher.

Alles gut und schön, Herr Wehrle, aber: Ohne Moos nix los, oder? Doch das Argument lässt er so nicht gelten. „Der Soziologe Martin Schröder hat vor zwei Jahren untersucht, ob mehr Geld mehr Zufriedenheit bedeutet. Ergebnis: Ab 2200 Euro netto trägt das Gehalt nicht mehr wesentlich zur Zufriedenheit bei.“

Martin Wehrle beim Angeln

Und wie fährt Karrierecoach Martin Wehrle selbst am besten runter? Beim Angeln!

Es gehe also nicht darum, Unsummen zu verdienen, sondern genug, um zufrieden leben zu können. Sagt's und schnappt sich seine Angel. Angeln ist nämlich sein größtes Hobby, was ihn auch schon zu Büchern inspirierte. Denn das scheint sein persönliches Erfolgsrezept zu sein: Alles, was sein Leben ausmacht, wird einfach zu Gold gemacht!

Harter Cut: IT-Spezialist ist richtig happy als Hochzeitsfotograf

Michael Engelbrecht hat den Schritt gewagt und ist mit 50 Jahren seiner wahren Berufung gefolgt. Der Dortmunder hat Hotelbetriebswirtschaft studiert, ein eigenes Hotel geführt und später in einem Unternehmen gearbeitet, das auf die Digitalisierung im Hotel- und Gaststättengewerbe spezialisiert ist. Ein Job, der ihm in der Anfangsphase große Freude bereitete: viele Kundenkontakte, zufriedene Gesichter, spannende Herausforderungen.

Doch die anfängliche Euphorie wich nach Jahren der Ernüchterung. Mit der Expansion des Unternehmens veränderten sich auch die Strukturen: Die persönlichen Kontakte zu den Kunden nahmen immer mehr ab. Stattdessen stiegen der bürokratische Aufwand und die Distanz zu den Kollegen und Vorgesetzten. „Jüngere wurden bevorzugt, ich fühlte mich zunehmend außen vor und nicht mehr wertgeschätzt“, erzählt Engelbrecht. Die fehlende Anerkennung und die sich verschlechternden Arbeitsbedingungen führten schließlich zum Burnout.

Hochzeitsfotograf Michael Engelbrecht

Michael Engelbrecht ist glücklich als Hochzeitsfotograf.

Während einer fünfwöchigen Reha stellte sich der damals 50-Jährige die alles entscheidende Frage: Was will ich wirklich machen? Und welche Fähigkeiten zeichnen mich aus? Die Antwort war klar: „Ich fotografiere seit 30 Jahren leidenschaftlich gerne und gut“, sagt Engelbrecht. „Ich wollte wieder in strahlende Gesichter blicken. „Als Betriebswirt weiß ich, wie ich mich und meine Dienstleistungen vermarkten kann.“ Im vergangenen Jahr kündigte er seinen IT-Job. Seitdem bietet er gemeinsam mit Videograf Emilio seine Dienste im In- und Ausland an (hochzeitsfotografie.me).

Obwohl sein Einkommen im Vergleich zu früher deutlich geringer ist, bereut Engelbrecht nichts. „Ich war schon immer Minimalist – Luxus brauche ich nicht. Was kann es Schöneres geben, als Erinnerungen zu schaffen, die sogar noch die Enkel des Brautpaares in den Händen halten werden?“

„Die Chefin ging tagelang wortlos an uns vorüber“

Katharina Afflerbach (47) war lange Marketingdirektorin für Kreuzfahrtreedereien und eine Hotelkette. Doch es habe zwei Bereiche gegeben, in denen es gewaltig schief lief: Kommunikation und Wertschätzung. Sie zog sie die Reißleine, lebte monatelang als Sennerin auf einer Alm, beschloss schließlich, sich als Autorin und Speakerin selbstständig zu machen. Das ist jetzt zehn Jahre her und die Wahlkölnerin hat den Schritt keinen Tag bereut.

Katharina Afflerbach, Autorin, Sennerin

Katharina Afflerbach ist glücklich als Autorin und Speakerin.

Sie erinnert sich im Gespräch mit EXPRESS.de: „Ich hatte z. B. mal eine Chefin, die oft wortlos an uns im Großraumbüro vorbeimarschierte und sich in ihrem Glaskasten verkroch. Tagelang noch nicht mal ein ‚Guten Morgen‘. Ich weiß nicht, ob und was ihr seitens ihres Vorgesetzten widerfahren war, doch anstatt mit uns zu reden, hat sie eine Mauer zwischen uns hochgezogen.“

Für Afflerbach ist (auch nach privaten Schicksalsschlägen) Kommunikation das Wichtigste. In Buchheim veranstaltete sie deshalb am dritten Advent auch ehrenamtlich ein Spendenabendessen („Dinner for Life“), getreu dem Motto: „Gelebte Zuversicht“.