Sticker, Smileys, GeschenkeWarum Belohnen genauso schlimm wie Bestrafen sein kann
„Leni bekommt aber das neue Prinzessinnenschloss“, ärgern sich unsere Kinder, als ich ihnen mitteile, dass sie mit ihren Wünschen bis zum Kindergeburtstag warten müssen. Was sie nicht wissen: Leni bekommt das Schloss nur, wenn sie gewisse Bedingungen erfüllt. Wenn sie sich an Regeln hält, die ihr die Eltern auferlegt haben. Leni muss in ihrer Familie Punkte sammeln.
Ein Belohnungssystem für Kinder?
Wie Treupunkte im Supermarkt, bekommt die sechsjährige Leni Punkte für stilles Sitzen am Essenstisch, für abendliches alleine Einschlafen und für das Aufhängen ihrer Jacke, wenn sie aus der Schule nach Hause kommt. Auf einem Plan kann sie nachvollziehen, wie viele Punkte sie braucht, bis sie ihr „Ziel“ erreicht hat – erst dann bekommt sie ihr Prinzessinnenschloss. Für jedes gute Betragen kleben ihr Mama oder Papa einen Aufkleber in ihren Plan.
Ein Belohnungssystem für Kinder: Ist das eine legitime Art der Erziehung? In einem Interview mit der ZEIT bezeichnete Familientherapeut und Bestsellerautor Jesper Juul die Belohnung von Kindern als „postmoderne Form von Bestrafung“. Denn wenn sich das Kind nicht an die Regeln hält, bekommt es das in Aussicht gestellte Geschenk nicht. Und was soll das anderes sein, als eine Bestrafung?
Erziehung: Das richtige Maß finden
Auch Maria Große Perdekamp, Leiterin der Online-Beratung der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung sieht diesen Punkt sehr kritisch. Auch wenn sie Belohnungssysteme an sich nicht gänzlich verteufelt – wenn sie denn richtig eingesetzt werden. Sie sagt: „Aus pädagogischer Sicht ungeschickt eingesetzt können solche Pläne und Punktesysteme zu Frust und auch Verweigerung führen. Das kommt einer Strafe im Effekt schon nahe.“
Sie plädiert dafür, solche Systeme nur einzusetzen, wenn die vereinbarten Ziele darin auch erreichbar sind, wenn aus der Belohnung also keine Strafe werden kann. „Ziel von Erziehung muss doch immer sein, dem Kind eine Orientierung zu geben und Zufriedenheit herzustellen“, sagt sie. Ein einjähriges Kind sei körperlich noch nicht in der Lage, auf´s Töpfchen zu gehen. Ein solches System als Anreiz würde also nichts bringen. Wenn eine Mutter aber seit fünf Jahren jeden Mittag das Kind bitten muss, seine Jacke aufzuhängen, dann könne das schon mal funktionieren.
Etwas drastischer sieht die ehemalige Supernanny und heutige Familienberaterin Katia Saalfrank solche Belohnungssysteme für Kinder. In einem Youtube-Video bittet sie die Zuschauer, sich einmal vorzustellen, eine Frau würde ihrem Mann einen solchen Plan zeichnen und ihm jedes Mal einen Sticker draufkleben, wenn er seine schmutzigen Socken nicht neben das Bett, sondern in die Wäschetrommel gelegt hat. Natürlich überspitzt sie damit, aber der Kern der Botschaft soll heißen: Lasst uns wie Menschen miteinander umgehen – auch mit Kindern. Sie hält eine Begegnung auf Augenhöhe für essentiell.
Welches familiäre Miteinander wünschen wir uns?
Und auch Maria Große Perdekamp regt an, zu überdenken, was ein solches System mit dem familiären Miteinander macht. Wollen wir so leben? Saalfrank spricht von einer Abhängigkeit, die wir mit solchen Systemen künstlich erzeugen. Sie sagt: „Wir halten sie unselbständig und das ist gegenläufig zu dem, was wir aus der Entwicklungspsychologie wissen, denn Kinder wollen ja selbstständig werden.“ Braucht es also überhaupt die externe Motivation für Kinder, das Prinzessinnenschloss als Belohnung? Sollte nicht vielmehr die Motivation aus ihnen selbst kommen?
Genau hier setzt auch Katja Seide an, die zusammen mit Danielle Graf den Blog Das gewünschteste Wunschkind aller Zeiten treibt mich in den Wahnsinn schreibt und jüngst den Bestseller Der entspannte Weg durch Trotzphasen schrieb. Sie sagt: „Belohnungssysteme sind immer eine Art pädagogische Krücke.“ Man könne sie unter bestimmten Bedingungen anwenden, ja, aber man müsse sich bewusst sein, dass man damit eigentlich aussagt: „Ich weiß mir gerade nicht anders zu helfen, als dich zu konditionieren.“ Manchmal komme man als Elternteil, oder als Lehrer halt in so eine Situation. „Da ist man einfach überfordert und möchte schlicht, dass das Kind funktioniert.“ Aber die Regel? Sollte es nicht sein.
Ganz wichtig ist ihr, Unterschiede in der Anwendung zu machen. Es spreche nichts dagegen, dem Kind so das Jacke aufhängen nach der Schule näher zu bringen. Niemals dürfe ein solches System aber bei vermeintlich „bösem“ Verhalten des Kindes eingesetzt werden.
Mein Kind kneift: Wie Eltern nicht reagieren sollten
Kneift ein Kind seine Geschwister, stellt es Beinchen oder drangsaliert ein Kind in der Kita, solle kein Belohnungssystem zur Änderung des Verhaltens eingesetzt werden. Denn damit würden die Ursachen für sein Verhalten komplett ignoriert. „Das ist in etwa so, als würde ich mit Kopfschmerzen zum Arzt gehen, und dieser würde mir nur Tabletten dagegen verschreiben, obwohl ich eigentlich einen unerkannten Tumor im Gehirn habe.“
Und Katja Seide macht noch auf ein weiteres wichtiges Phänomen aufmerksam: Was, wenn das Kind plötzlich sagt: Hm, das Geschenk ist mir jetzt egal, ich putz einfach keine Zähne mehr? „Dann haben die Eltern ein Problem.“
Sowohl sie als auch Maria Große Perdekamp und Katia Saalfrank sind sich einig, dass die Motivation am größten ist, wenn sie von innen kommt. Wenn ein Kind seinem Freund beweisen will, wie mutig und kräftig es ist und deswegen auf den Baum klettert – und nicht weil der Papa ihm dafür eine Tüte Gummibärchen verspricht. Es braucht eben nur noch einen Weg, um beim Kind die gleiche Motivation für's Zähne putzen oder Aufhängen der Jacke zu entfachen. Einen Versuch, es auf Augenhöhe zu probieren sollte es aber wert sein.
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