Plötzlich liebMein Kind benimmt sich überall besser als zuhause - woran liegt das?
Köln – Es ist zum aus der Haut fahren: das Kind benimmt sich schon seit Stunden wie eine offene Hose. Es motzt, streitet, stellt Dinge an. Gut, dass es am Nachmittag zu einer Freundin geht. Abstand tut gut. Als deren Mutter das Kind am Abend aber zurück bringt, schwärmt sie nur so davon, wie unglaublich lieb, hilfsbereit und sozial es doch ist. Aber halt, meint sie wirklich das gleiche Kind?
Viele Eltern kennen dieses Phänomen, dass der Sohn oder die Tochter wie von Zauberhand plötzlich lieb werden, wenn sie woanders sind.
Erziehungsexperte Andreas Engel von der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke) weiß, woran das liegt. Ein Gespräch.
Warum benehmen sich Kinder auswärts oft besser als zuhause?
Andreas Engel: Ab dem Schulalter haben Kinder schon gelernt, zwischen dem heimischen Milieu und fremder Umgebung zu unterscheiden. Zuhause kennen sie alle Regeln und Beziehungen, fühlen sich sicher und wissen auch, wie es ausgeht, wenn Konflikte passieren.
In fremder Umgebung, in der sie sich noch nicht so gut auskennen, wollen Kinder zunächst Anerkennung finden und akzeptiert werden. Deswegen verhalten sie sich dort angepasster und höflicher. Manchmal hat das auch mit Angst zu tun: Was passiert, wenn ich mich nicht anständig benehme? Sie beobachten und schauen, was dort für Regeln gelten.
So ist es bei Erwachsenen ja auch. Wenn die bei der englischen Königin eingeladen sind, legen sie ja auch nicht die Füße auf den Tisch.
Das heißt, es ist ein gutes Zeichen, wenn Kinder sich bei den Eltern richtig gehen lassen – und auch schlechte Laune und Frust rauslassen?
Engel: Ja. Die Kinder fühlen sich in ihrer eigenen Familie sicher und zeigen auch Emotionen und Handlungen, die sie vor Fremden verbergen.
Und es ist ein ganz normales Phänomen, dass sich Kinder woanders besser verhalten?
Engel: Absolut. Dass Kinder zwischen Zuhause und Fremde differenzieren können, das ist sogar ein Zeichen dafür, dass sie sich gut entwickeln. Mit etwa acht Monaten geht es los, dass Babys fremdeln. Sie lernen, das Vertraute der eigenen Bezugspersonen vom Fremden zu unterscheiden, das zunächst unbekannt, stressig und gefährlich erscheint. Diese Entwicklungsphase dauert in etwa, bis das Kind zweieinhalb ist.
Es gibt auch Kinder, die hemmungslos sind, sich bei Fremden auf den Schoß setzen, keine Distanz haben und kein Fremdeln kennen. Das ist eher ein Grund zur Sorge.
Benehmen sich Kinder woanders auch so gut, weil sie gelobt werden wollen? Damit die Eltern sich freuen, weil sie „so lieb“ waren?
Engel: Das positive Feedback der Eltern kann eine Rolle spielen. Aber es geht den Kindern vor allem darum, in der Fremde Anerkennung zu bekommen, zum Beispiel auf einem Geburtstag in der Gruppe gut anzukommen, von den Gastgebern positiv wahrgenommen zu werden.
Für die Eltern kann die plötzliche Gemütsänderung des Kindes aber auch ganz schön frustrierend sein...
Engel: Stimmt, viele Eltern verstehen oft die Welt nicht mehr, weil sie zum einen das Feedback bekommen, dass ihr Kind nett, freundlich und sozial ist, es sich aber zum anderen zuhause verhält wie eine Wildsau. Es ist aber schon so, dass wir beide Seiten in uns haben: das gesellschaftlich Angepasste, Freundliche, Positive, aber auch die Fähigkeit, unseren Emotionen freien Lauf zu lassen.
Sollten Eltern ihr Kind fragen, warum es sich so wechselhaft verhält?
Engel: Das können sie natürlich tun. Ich bezweifle aber, dass viel dabei herauskommt. Eltern sollten solch ein Verhalten lieber still positiv würdigen und leise zu sich sagen: Er kann es, wenn’s notwendig ist! Eigentlich müssten Eltern stolz sein.
Welchen Einfluss haben die Eltern selbst auf das Verhalten der Kinder draußen?
Engel: Eltern sind auch hier das große Vorbild der Kinder. Die Kinder schauen sich ab, wie Mutter und Vater sich zuhause und draußen verhalten. Wenn die Eltern zuhause rülpsen und schreien und sich in der Öffentlichkeit völlig anders verhalten, merken sich Kinder das.
Ein anderes Umfeld erleben und mit fremden Regeln umgehen zu müssen - ab welchem Alter kann ein Kind auch mal ohne Eltern weg sein?
Engel: Das kommt darauf an, wie gut seine Bindung zu den Eltern ist. Wenn ein Kind sicher gebunden ist, kann es auch relativ früh mal von ihnen weg – natürlich in die Obhut von jemandem, dem die Eltern vertrauen. Das muss man ausprobieren.
Macht es Sinn, das in kleinem Rahmen zu üben – einfach das Kind mal alleine zum Bäcker reingehen zu lassen?
Engel: Warum nicht. Kinder könnten das zuerst zusammen mit den Eltern und dann Schritt für Schritt alleine machen. Aber da ist jedes Kind unterschiedlich, nicht alle haben den gleichen Wagemut.
Besonders forcieren muss man so etwas aber nicht. Denn das kommt in der Regel von alleine. Es gehört zur Abnabelung von den Eltern und ist Teil der normalen Entwicklung eines Kindes hin zu einem selbständigen Menschen.
Vielen Dank für das Gespräch.