Tochter einer Narzisstin„Meiner Mutter machte es Spaß, mich zu verletzen“
„Ich verdanke meine Existenz einem Unfall. Zumindest hat das meine Mutter immer zu mir gesagt.“ Gabriele Nicoletas Leben ist nicht von der Liebe sondern vom Narzissmus ihrer Mutter bestimmt. Ihre Geburt, ihre Kindheit, ihre Jugend, ihr Erwachsenenleben. Ihre Existenz ist der Grund dafür, dass das Leben der Mutter ein verdorbenes ist – das lässt diese ihre Tochter immer wieder spüren.
Mythos der bedingungslosen Liebe der Mutter zu ihrem Kind
Es ist ein großes Tabuthema, an das sich Nicoleta in ihrem Buch „Das Gift der Narzisse“, herantraut. Der Mythos der bedingungslosen Liebe einer Mutter zu ihrem Kind scheint schließlich ungebrochen. „Eine Mutter, die ihrem Kind absichtlich schadet, will sich keiner vorstellen“, erklärt Nicoleta. Wie schwer das Leben mit einer narzisstischen Mutter für Kinder ist, darüber wurde bislang oft geschwiegen. Auch die Autorin hat lange geschwiegen.
„Sie meint es doch nur gut mit Dir“
Der Grund: Die Scham und die Reaktionen anderer, wenn sie das schwierige Verhältnis zu ihrer Mutter auch nur andeutete: „Es ist doch aber deine Mutter“, hieß es dann oft, oder: „Sie meint es doch nur gut mit Dir“.
Erst mit Ende 40 hat sie ihr Schicksal öffentlich gemacht. Nicoleta hat vor etwas mehr als zwei Jahren eine Gruppe für Betroffene gegründet und will mit ihrem kürzlich erschienenen Erfahrungsbericht nun endlich mit dem Thema abschließen.
Egozentrität, Entwertung: Was Narzissten ausmacht
Etwa ein bis vier Prozent der Menschen sollen verschiedenen Angaben zufolge Narzissten sein, wobei die Dunkelziffer wohl deutlich höher ist. Schließlich geben sie sich selten in Behandlung, weil sie ihre Störung nicht als solche empfinden oder weniger darunter leiden als ihr Umfeld. Der Psychiater Reinhard Haller erklärt in seinem Buch „Die Narzissmusfalle“, dass die folgenden vier Elemente charakteristisch für das Krankheitsbild seien: „Egozentrität, Empfindlichkeit, Empathiemangel und Entwertung.“
Selbstwert durch Entwertung anderer steigern
Der Selbstwert von Menschen mit narzisstischer Störung ist demnach derart angegriffen, dass sie dazu neigen, ständig andere zu erniedrigen, um sich selbst besser zu fühlen. Nicoletas Mutter „Leni“ hatte sich die Tochter als Opfer ausgesucht. Und die konnte ihrer Mutter nur schwer entkommen.
„Meine Tochter ist richtig bösartig“
Nicoletas Mutter beschimpft sie als „Bettnässerin“, als „Angeberin“. Sie stellt sie vor anderen als „richtig bösartig“ und „hinterhältiger, als sie sich vorstellen können“ dar. Nicoletas Bruder dagegen hebt sie in den Himmel – ein Muster, das bei narzisstischen Müttern häufig zu finden ist, dass sie ein Kind als „das Gute“ inszenieren und das andere als „das Böse“.
„Eine Ohrfeige warf mir den Kopf zu Seite – meine Mutter tobte“
Mutter Leni klagt sie bei der ungläubigen Kindergärtnerin für Dinge an, die sie nicht getan hat. Sie schickt sie mit hohem Fieber und Mumps in die Schule und verweigert ihr zunächst eine ärztliche Behandlung.„Eine Ohrfeige warf mir den Kopf zu Seite. Ich verlor beinahe das Gleichgewicht, so fest hatte meine Mutter zugeschlagen“, schreibt Nicoleta über eine der vielen Strafen, die sie über sich ergehen lassen musste. „Meine Mutter tobte. Ich musste mich zwei Stunden in die Ecke stellen und durfte mich nicht rühren. Als ich zu jammern anfing, weil ich Hunger hatte, sagte sie mir, ich bekäme erst dann wieder etwas zu essen, wenn ich zugeben würde, dass ich es getan hätte.“
Die Mutter verbietet der Tochter während der Periode zu duschen
Auch als Nicoleta erwachsen wird, ändert sich das Verhalten der Mutter nicht. Als die junge Frau ihre Periode bekommt, zwingt die Mutter sie, während ihrer Tage aufs Duschen zu verzichten. „Ich musste mit fettigen Haaren und ungewaschen in die Schule gehen. Ich schämte mich so sehr.“ Schließlich macht Leni die Tochter sogar für das das Scheitern ihrer Ehe verantwortlich. Dann gibt sie ihr die Schuld an ihrem Herzleiden.
Die Tochter wird zum Sündenbock
Gabriele Nicoleta wird zum Sündenbock für jegliches Leid im Leben der Mutter. Der alkoholkranke Vater kann oder will sie nicht schützen. Er entflieht dem Familien-Elend schließlich, indem er sich das Leben nimmt. Bei der Beerdigung des Vaters wirft Leni ihrer weinenden Tochter vor, sie sei „eiskalt“.
Sie gönnt ihrer Tochter nicht das kleinste Glück
Als Gabriele Nicoleta selbst eine Familie hat, mit ihrem Mann und drei Kindern im eigenen Haus lebt, lässt Mutter Leni keine Gelegenheit aus, sie zu demütigen. Ihr Haus sei „eine Bruchbude“, mit den Kindern mache sie alles falsch, und: Sie sei blind dafür, dass ihr Mann ein Verhältnis mit einer anderen habe. Sie gönnt ihrer Tochter nicht das kleinste Glück: „Deine Ehe hält eh nicht lange!“
Wunsch nach Verbannung – und Versöhnung
Immer wieder versucht Gabriele Nicoleta sich von der Mutter abzugrenzen, sie aus ihrem Leben zu verbannen. Gleichzeitig ist da eine große Sehnsucht nach einer Versöhnung, der sie immer wieder nachgibt – um immer wieder enttäuscht zu werden.
Als ihre Mutter schließlich im Alter erkrankt, streut sie in der weiteren Verwandtschaft das Gerücht, dass ihre Tochter sich nicht um sie kümmere. Selbst nach ihrem Tod versetzt sie Nicoleta noch einen Schlag: Der Pastor verliest die von der Mutter selbst geschriebene Trauerrede, in der sie allen nahen Verwandten dankt, ihre Tochter und deren Familie jedoch nicht erwähnt. Später erfährt sie, dass ihre Mutter sie schon als junge Frau enterbt hatte.
„Die Erkenntnis war schmerzhafter als alles andere“
Erst spät, in ihren Vierzigern, wird der Autorin klar, dass ihre Mutter eine Narzisstin war. „Ich hatte das gefühlt in all den Jahren, aber so richtig begriffen hatte ich es nie, vielleicht, weil ich es nicht hatte begreifen wollen.“ Denn: „Die Erkenntnis, dass meine eigene Mutter nichts anderes im Sinn hatte, als meine Gefühle zu verletzen, und sich nur mit mir zu beschäftigen, weil sie mein Glück zerstören wollte, war schmerzhafter als alles andere.“
Mit Betroffenen austauschen
Menschen, die vermuten, ein narzisstisches Elternteil zu haben, empfiehlt die Autorin, sich zu informieren und mit anderen Betroffenen auszutauschen, etwa unter www.narzissmus.org. Außerdem rät Nicoleta den Kontakt zur Mutter beziehungsweise zum Vater, wenn möglich, abzubrechen oder stark zu reduzieren, und sich einen Therapeuten zu suchen.
Die Liebe, die sie selbst nie bekommen hat, schenkt die freiberufliche Fotografin nun ihren beiden Söhnen und ihrer Tochter. „Meine Tochter und mich verbindet allerdings ein besonderes Band. Ihre Augen vor Glück strahlen zu sehen, ist für mich das größte Geschenk. Sie gibt mir damit jedes Mal einen kleinen Teil meiner Kindheit zurück.“ (rer)
Gabriele Nicoleta: Das Gift der Narzisse. Wenn eine Mutter ihr Kind seelisch vergiftet. 384 Seiten, Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag, Berlin 2016.