AngststörungWas passiert eigentlich bei einer Panikattacke – und ist das gefährlich?
„Bei dem Gedanken, Bahn fahren zu müssen, wurde mir schlecht“, erzählt Jonathan. Der 31-jährige litt an einer Angststörung, ein normales Leben war für den Pfleger praktisch nicht mehr möglich.
Heute weiß er: „Eine Angststörung bekommt man nicht von heute auf Morgen. Am Anfang war alles noch relativ harmlos. Ich hatte vor allem Probleme beim Bahn fahren. Enge Räume mit vielen Menschen waren mir einfach unangenehm, aber ich konnte es immer aushalten.“ Doch das ungute Gefühl steigerte sich. „Irgendwann habe ich angefangen, früher loszufahren, als ich musste – um einen Puffer zu haben. Das Wissen, immer aussteigen zu können und trotzdem anzukommen, war enorm wichtig für mich.“ So konnte er im Bedarfsfall aussteigen und die nächste Bahn nehmen oder auch zu Fuß weitergehen und trotzdem pünktlich sein. Irgendwann fing er an, tatsächlich auszusteigen. „Ab einem Punkt hat mich schon das Wissen, bald wieder Bahn fahren zu müssen, so dermaßen gestresst, dass ich den ÖPNV gar nicht mehr genutzt habe.“
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Jonathan ist die Angst auf den Magen geschlagen: „Mir wurde immer schlecht.“ Dazu kamen Herzrasen, Schwitzen, extreme Nervosität. Still sitzen war ihm beim Bahn fahren unmöglich: „Ich bin einfach immer hin- und hergelaufen. Ich habe mich nicht hingesetzt, sondern stand in der Bahn und konnte mich relativ frei bewegen. So konnte ich dem Gefühl der Getriebenheit entgegenwirken.“ Angst, einen Unfall zu haben oder andere Horrorszenarien, hatte er dabei nicht. Die Angst, die er spüre, beschreibt er als abstrakt: „Ich wollte einfach immer das Gefühl haben, raus zu können, wenn mir danach ist.“
Jede zweite Angststörung bleibt unbehandelt
So wie Jonathan ergeht es vielen Menschen. Jeder zweite, der unter einer Angststörung leidet, lässt sich jedoch nicht behandeln: „Angst vor der Konfrontation mit den Angst auslösenden Situationen oder Furcht vor den Medikamenten halten viele davon ab“, erklärt Professor Borwin Bandelow, stellvertretender Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin in Göttingen. Zudem hätten Psychiater einen schweren Stand: „Man traut eher einem Internisten als einem Psychiater. Außerdem suggeriert die Krankheit ein körperliches Problem und kein psychisches.“
Gedanken wie „Damit wirst du doch schon noch alleine klarkommen“ hielten auch Jonathan lange davon ab, sich Hilfe zu holen: „Bis ich mir eingestanden habe, dass ich es doch nicht alleine schaffen würde, hat es schon sehr lange gedauert.“ Es brauchte einige Monate, in denen er sich in seinem Leben sehr einschränkte.
Wie Jonathan damals wissen viele Menschen nicht viel über Angststörung und Panikattacken. Darum sprachen wir mit dem Professor Borwin Bandelow, stellvertretender Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin in Göttingen, der Experte auf dem Gebiet ist.
Stimmt es, dass immer mehr Menschen unter Panikattacken leiden?
„Nein, der Eindruck trügt“, sagt Bandelow. Rund die Hälfte der Angststörungen sei erblich, so der Mediziner; daher ändern sich die Häufigkeitszahlen nicht mal eben in zehn, 20 Jahren. Für die These, dass die Zahl der Angsterkrankungen zunimmt, gebe es keine wissenschaftlichen Befunde, so Bandelow. Im Durchschnitt leiden Patienten ab 28 Jahren unter Panikattacken, die mit 36 Jahren am schlimmsten für die Betroffenen sind. Mit etwa 45 bis 50 Jahren nehmen laut Bandelow die Panikattacken in der Häufigkeit ab.
Wie schildern Betroffene eine Panikattacke?
„Bei einer Panikattacke zeigt man eine Reaktion aus heiterem Himmel“, erzählt der Psychiater. Betroffene klagten über ein komisches Gefühl im Magen, vom Herzrasen, Zittern und Schwitzen, über Schwindel, Luftnot bis hin zur Angst zu sterben. Auch die Angst vor dem Bahnfahren ist häufig Gegenstand einer Angststörung, wie bei Jonathan.
Was sind mögliche Auslöser?
„Eine Panikstörung, so heißt die Krankheit, geht in 60 Prozent der Fälle mit einer Agoraphobie einher. So nennt man die Angst vor Menschenmengen und engen Räumen oder verschiedensten anderen Situationen.“ Der Betroffene sei in der akuten Situation tatsächlich davon überzeugt, er benötige eine ärztliche Behandlung. „Sie befürchten das Auftreten einer Panikattacke in einer Situation, in der das Herbeiholen ärztlicher Hilfe schwierig wäre, “, erklärt Psychiater Bandelow. Dabei gehe eine Panikattacke auch ohne Arzt weg.
Körperliche Beschwerden ohne greifbare Ursache
Sind die körperlichen Symptome real?
Die Symptome sind real, der Auslöser jedoch nicht. Psychiater Bandelow erklärt, warum unser Körper so reagiert: „Bei einer Panikattacke handelt es sich um eine sogenannte Kampf- oder Flucht-Situation. Stellen Sie sich vor, es rennt jemand mit einem langen Messer auf Sie zu und bedroht sie, dann sind Sie wirklich in Gefahr.“ Man könne das mit einem modernen Auto vergleichen. Wenn das Auto den Unfall schon vorher erahne, ziehe es die Gurtstraffer an und löse die Airbags aus. „Genau diese Reaktion findet auch im menschlichen Körper statt, mit dem Unterschied, dass bei einer Panikattacke diese Gefahr gar nicht vorhanden ist.“
Um beim Auto-Vergleich zu bleiben: „Das heißt, Sie stehen mit Ihrem Auto auf dem Parkplatz von Aldi und der Airbag geht los – obwohl Sie gar nicht fahren. Und genauso geht bei der Panikattacke – ohne dass eine Gefahr da ist – die Angstreaktion los. Die körperlichen Symptome sind also normale körperliche Reaktionen, wenn der Körper im Gehirn auf Kampf und Flucht umgestellt wird. Dabei wird beispielsweise Blut vom Kopf in die Arme und Beine gepumpt, damit man besser kämpfen und schneller weglaufen kann. Auch alle anderen Symptome haben nichts anderes im Sinn, als den Körper vor einer drohenden Gefahr zu schützen oder ihn auf Kampf oder Flucht vorzubereiten.“
Körperliche Symptome ohne greifbaren Auslöser machen Angst
Liegt keine äußere Gefahr vor, doch die Symptome der Panikattacke treten auf, denke man schnell, man habe ein internistisches Problem und müsse zum Arzt. „Wer Symptome zeigt, aber keine Ursache dafür findet, bekommt Angst, weil er nicht versteht, was da gerade im eigenen Körper passiert“, erklärt Bandelow.
Sind die Symptome also nicht gefährlich?
Die Symptome einer Panikattacke sind nicht gefährlich. Bandelow aus seinem Alltag: „Trotzdem denken Betroffene immer wieder, dass sie daran sterben könnten und haben Bedenken, sodass auch Ärzte Betroffene manchmal schwer davon überzeugen könnten. Auch wenn zum fünften Mal ein EKG geschrieben wurde, das absolut in Ordnung war, denken Betroffene immer noch, dass sie daran sterben könnten.“
Wie Jonathan trotzdem ins Fußballstadion ging
„Stehplatz im Stadion ging klar – wenn ich am Gang stehen konnte“
Sich bewusst zu machen, dass ihm eigentlich nichts passieren kann, half auch Jonathan, der leidenschaftlicher Fußballfan ist und seit vielen Jahren sein Team bei fast jeder Gelegenheit im Stadion unterstützt. Auch während er unter der Angsterkrankung litt. „Wenn es ging, bin ich mit dem Fahrrad hingefahren“, erzählt er.
„Im Stadion selber hatte ich keine großen Probleme, solange ich am Gang stehen konnte.“ Wenn er aber erst kurz vor Anpfiff am Stadion ankam und sich am Einlass ein großer Menschenpulk gebildet hatte, dann konnte er sich nicht dazustellen. „Darum bin ich dazu übergegangen, immer sehr früh loszufahren und früh im Stadion zu sein.“ Doch an manchen Tagen schaffte er den Gang ins Stadion nicht – und fuhr noch vor Anpfiff wieder nach Hause.
„Irgendwann hatte ich Angst, vor die Türe zu gehen“
„Irgendwann waren meine Ängste aber nicht mehr situationsgebunden, sondern ich hatte einfach Angst, vor die Türe zu gehen. Die Angst wurde generalisiert und ich hatte einfach vor allem Angst.“Als er erkannte, dass er Hilfe braucht, suchte Jonathan seinen Hausarzt auf, der ihn an einen Psychiater überwies. Dort bekam er Medikamente – Antidepressiva – die ihm helfen.
Zudem hat er ein Notfallmittel, das er immer dabei hat und ihm helfen soll, wenn er eine akute Attacke hat. „Das habe ich aber seit Monaten nicht mehr genommen“, erzählt er heute. Mit einer Psychologin arbeitet er auch heute noch an Angststörung und Depression.
Therapie gegen die Angststörung
Behandlung ist eine Mischung aus Verhaltenstherapie und Antidepressiva
Mit seiner Arbeitsgruppe hat Professor Bandelow sämtliche Studien durchgearbeitet und kommt zu dem Fazit: „In aktuellen Untersuchungen haben wir herausgefunden, dass Medikamente insgesamt eine stärkere Wirkung auf die Angstsymptome haben als eine Verhaltenstherapie.“ Bei einer Angststörung ist die medikamentöse Behandlung so ausgelegt, dass der Patient mehrere Monate Antidepressiva verschrieben bekommt. Medikamente wie Antidepressiva, seien besser als ihr Ruf, meint Bandelow: Die Nebenwirkungen seien überschaubar, und abhängig machten sie auch nicht, so der Psychiater und weist darauf hin, dass eine unbehandelte oder unzureichend behandelte Angsterkrankung Betroffene bei weitem mehr im Leben und Alltag einschränke.
Mit dem Zug in die Tagesklinik
Über sechs Wochen ging Jonathan in eine Tagesklinik. Dort lautete seine erste Aufgabe, jeden Morgen mit dem ÖPNV in die Klinik zu kommen. Auch wenn der Weg nur 10 Minuten dauerte, setzte ihn diese Fahrt immens unter Stress. Doch mit jedem Mal wurde es besser. „Bei einer Verhaltenstherapie ist es vor allem wichtig, sich mit der Angst direkt zu konfrontierten, weil sich so der Körper daran gewöhnt und man die Erfahrung macht, dass man die Angst durchstehen kann“, erklärt Bandelow. Betroffene begeben sich dabei bewusst in Menschenmengen, in Fahrstühle oder benutzen öffentliche Verkehrsmittel. So trainiert man sich gegen die Angst.
Leben mit der Angststörung: „Ich habe jetzt die richtigen Werkzeuge“
Mittlerweile kann Jonathan wieder fast problemlos Bahn fahren. Lange Bahn-Reisen, wie etwa zum Auswärtsspiel seines Lieblingsvereins, meidet er auch heute noch und sucht sich lieber weniger frequentierte Verbindungen heraus. Das schränke ihn aber nicht weiter in seinem Alltag ein.
Seit seiner Diagnose ist ein Jahr vergangen. Er geht inzwischen wieder voll arbeiten. Der Einstieg gelang mit dem Hamburger Modell, das seine langsame Wiedereingliederung der Betroffenen in den Job vorsieht. „Ich funktioniere wieder in meinem Alltag.“
„Ich kann jetzt damit viel besser umgehen“
Jonathan plädiert für einen offeneren Umgang mit der Angststörung. Er „outete sich“ sehr früh, als er seine Diagnose bekam: „Ich habe sehr früh mit offenen Karten gespielt und habe sehr viel Verständnis und Zuspruch bekommen.“ Alte Bekannte, von denen man länger nichts gehört hatte, meldeten sich, Freunde zeigten viel Verständnis und auch sein Arbeitgeber ging sehr offen damit um und half ihm sogar dabei, einen Psychiater zu finden. John ist selbst in der Pflege tätig und arbeitet mit psychisch kranken Menschen.
„Ich bin der Meinung, dass man nicht geheilt ist, sondern mit der Angststörung leben und damit umgehen kann.“ Er fühle sich nicht mehr eingeschränkt. Er nehme noch Medikamente und sei gut eingestellt. Wenn er eine Verschlechterung spüre, dann könnte er sich gezielt Hilfe suchen. „Ich habe jetzt das Werkzeug, um damit besser umzugehen. Wenn man sich einmal gefangen hat und in Behandlung ist, dann kann man nicht mehr so tief fallen wie vorher.“
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