Von wegen Schwäche und Unterordnung! Wer freundlich ist, lebt nicht nur gesünder, sondern kann auch mehr erreichen. Psychologin Nora Blum sagt, wie und warum.
Mehr Erfolg, weniger StressWarum wir alle radikal freundlicher sein müssen

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Radikale Freundlichkeit funktioniert! Dazu sagt der (amtierende) 14. Dalai Lama: „Sei freundlich, wann immer es möglich ist. Es ist immer möglich.“
„Bitte recht freundlich!“ Diesen Satz kennen wir wohl alle, wenn auch nur oberflächlich. Denn er impliziert bei den meisten, lieb zu lächeln (fürs Erstellen von Familienfotos durchaus angebracht) und keine Widerworte zu geben. Dabei ist Freundlichkeit so viel mehr – sie kann unseren Alltag und uns selbst wesentlich entspannter machen.
Warum das so ist und wie wir es schaffen können, auch dann freundlich zu bleiben, wenn wir unserem Gegenüber am liebsten eine schallern würden, erklärt Psychologin Nora Blum in ihrem Buch „Radikale Freundlichkeit“. Und im Gespräch mit EXPRESS.
Freundlichkeit bedeutet nicht, alles hinzunehmen
Zunächst aber gilt es, das größte Missverständnis auszuräumen. „Mit Freundlichkeit verbindet man mangelnde Durchsetzungsfähigkeit, das sogenannte ‚people pleasing‘ und Konfliktscheue. Dass man lieb zu allem ‚Ja und Amen‘ sagt, keine Grenzen setzt, eigene Ziele nicht verfolgt. Aber genau diese Dinge haben nichts mit Freundlichkeit zu tun“, so Nora Blum, Gründerin der Online-Therapieplattform Selfapy.
„Wenn ich meine Ziele nicht verfolge, bin ich nicht freundlich zu mir selbst, weil ich über meine Bedürfnisse gehe. Wenn ich mich und meine Bedürfnisse immer zurückhalte, nie äußere, dass etwas nicht okay ist, immer nur ja sage, kippt das irgendwann. Und zwar dahingehend, dass man ausflippt, eine Beziehung verlässt, die Freundschaft kündigt, über die betreffende Person lästert oder ihr aus dem Weg geht“, so die Psychologin.

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Die Psychologin und Selfapy-Gründerin Nora Blum hat das Buch „Radikale Freundlichkeit“ geschrieben.
Je eher man seine Interessen von vornherein vertrete und klar sage, was stört, desto leichter sei es, freundlich zu bleiben. Gerade im Job sei es, so Blum, ein „Akt der Freundlichkeit, Probleme offen anzusprechen.“ Denn wer immer nur „Lilalaune-Feedback“ gibt und mit strahlender Miene alles toll findet, raubt Mitarbeitern in Wahrheit die Möglichkeit, sich zu entwickeln.
„Ich sage nicht, woran sie sind, lasse sie im Unklaren und damit auflaufen. Wenn es dann Probleme gibt bis hin zum Mitarbeitergespräch oder gar zur Kündigung, wissen die Menschen gar nicht, dass sie schlecht performt haben, weil das nötige Feedback nicht da war.“ Was im Berufsleben öfter vorkomme, sei falsche, manipulierende Freundlichkeit. „Die ist aufgesetzt, meist übertrieben, hat keine Herzlichkeit.“
Aber zurück zu Alltagssituationen, die vielen von uns wohlbekannt sein dürften: Der Business-Typ, der uns in der Bahn anrempelt. Die Muttitaxlerin, die den Fußweg versperrt, der drängelnde Zeitgenosse an der Kasse, diese eine Nachbarin, die immer moppert. Erster Impuls: dem Ärger verbal Luft machen, das Gegenüber gar in die Schranken weisen.
Aber bringt das was, außer einem erhöhten Puls? Nein, für Nora Blum gilt: „Ich erreiche mehr, wenn ich freundlich bin, also Konflikte freundlich anspreche und ich bin aus egoistischen Gründen freundlich. Weil ich mehr erreiche und es für meine Lebenszufriedenheit wichtig ist.“ Denn radikale Freundlichkeit ist nicht nur eine positive, sondern auch gesunde Lebenseinstellung.
Wann auch die Freundlichkeits-Expertin unfreundlich wird
Schön und gut, aber wie klappt das im Alltag? Laut Nora Blum können diese drei Schritte helfen:
- Atmen: „Den Moment höchster Erregung brechen, nicht aus Automatismus und ‚Wie du mir so ich dir‘-Manier handeln. Tief in den Bauch atmen, bewusst die Entscheidung treffen, freundlich zu reagieren. So erreiche ich mehr, als auf den Erregungslevel einzusteigen.“ Denn Stress raubt einem selbst viel Energie.
- Vorstellen: „Auch wenns schwerfällt: Stellen Sie sich vor, wie Ihr Gegenüber als kleines Kind ein Geschenk öffnet und sich freut. Man verbindet sich auf emotionaler Ebene, es öffnet sich Raum für Empathie.“
- Erklärung suchen: „Vielleicht hat der andere Schmerzen, einen krass blöden Tag oder wurde als Kind schlecht behandelt. Es gibt einen englischen Spruch hurt people hurt people (verletzte Menschen verletzen Menschen), den man sich immer wieder ins Gedächtnis rufen kann.“
Sie selbst, räumt Nora Blum ein, sei von Natur aus „auch keine Freundlichkeitsheilige“, sie habe lernen müssen, gewisse Dinge nicht persönlich zu nehmen. „Den Ärger an sich abgleiten lassen. Ja, es klingt so einfach, kann aber schwierig sein. Weil es wahnsinnig schwer ist, die Erwartungshaltung an sich selbst zu reduzieren. Es gibt auch Situationen, in denen ich mit Freundlichkeit nichts mehr erreiche.“
Ihre „Freundlichkeits-Achillesferse“ sei der politische Diskurs. „Wenn jemand politische Ansichten vertritt, die ich absolut nicht teilen kann, fällt es mir sehr schwer, freundlich zu bleiben. Gleichzeitig halte ich das in diesen Situationen aber für sehr wichtig, damit sich die Fronten in unserem Land nicht noch weiter verhärten.“
Und wenn es mit der Freundlichkeit aller guten Vorsätze zum Trotz doch nicht so ganz geklappt hat? Dann können Sie sich immer noch entschuldigen. „Mir gelingt es auch nicht immer, freundlich zu bleiben. Ich bin Fan von Entschuldigungen, wir gehen leider viel zu knauserig damit um. Nicht im Sinne einer Selbstgeißelung, sondern ganz schlicht. Zum Beispiel: ‚Tut mir leid, wenn ich gestern so schroff war, ich stand unter Stress‘. Das bricht keinem einen Zacken aus der Krone!“
Wie nett! Ein freundliches Training
Psychologin Nora Blum hat sich angewöhnt, Leute auf der Straße einfach anzulächeln: „Viele sind irritiert – aber die meisten freuen sich, finden es überraschend und schön, angelächelt zu werden.“ Gute Einstiegsübung, für die man mit wohliger Selbstzufriedenheit belohnt wird. Hier sind weitere freundliche Gesten.
Im Umgang mit Fremden:
- Jemandem die Tür aufhalten
- An der Kasse jemanden vorlassen
- Ein unbenutztes/noch nicht abgelaufenes Parkticket weitergeben
- Nette Bewertung für einen kleinen Laden hinterlassen
Im Kollegenkreis:
- Freundlichen Guten-Morgen-Gruß im Team-Chat schreiben
- Konstruktives Feedback geben
- Nach Wochenendplänen fragen (und sie sich für Nachfragen merken)
- Dankeschön-Notiz hinterlassen
Bei Freunden/Bekannten:
- Spontanes, ehrliches (!) Kompliment machen
- Kurz anrufen und fragen, wie es so geht
- Einen Freund von der Arbeit abholen
- Sich als Baby- oder Haustiersitter anbieten
Es mag verblüffend erscheinen, aber oft weiß man gar nicht, wie freundlich scheinbare „Belanglosigkeiten“ auf andere Menschen wirken und das Zusammenleben ganz einfach angenehmer machen können.