3.000 entvölkerte Dörfer soll es geben, die meisten davon im Norden des Landes. Reise zu sieben besonders faszinierenden aufgegebenen Siedlungen - in die teils das Leben wieder einkehrt.
Lost PlacesVerlassen, vergessen, neu entdeckt: Geisterdörfer in Spanien
Einst wurde in ihnen gelebt, geliebt, geschuftet, gefeiert, gebetet, getrauert. Dann setzten in Spaniens entlegenen Orten ab den 1950er-Jahren die Wellen der Landflucht ein. Maschinen machten viele Arbeitskräfte auf dem Land überflüssig. Minen schlossen. Fabriken, falls es sie überhaupt gab, zogen wieder ab.
„Die Menschen sehnten sich nach einer besseren Lebensqualität“, sagt Faustino Calderón aus Madrid, der auf seiner nicht-kommerziellen Website eine Vielzahl verlassener Orte dokumentiert. „Sie sahen, dass in den Städten ein anderes Leben herrschte, weniger hart und mit mehr Wohlstand - und sie holten ihre Eltern nach.“
So verfielen viele Dörfer allmählich zu Geisterdörfern.
„Wir haben das Landleben oft idealisiert, aber man lebte sehr schlecht. Es gab kaum Bildung. Für die Menschen ging es rein ums Überleben.“ Auch Ángel Lorenzo Celorrio befasst sich als Mitglied im Freundeskreis des Historischen Museums der Stadt Soria intensiv mit Wüstungen, von denen es in der gleichnamigen Provinz einige gibt. Und der pensionierte Feuerwehrmann, 64 Jahre alt, nennt seinen Favoriten unter den aufgegebenen Siedlungen: Peñalcázar.
Wer dieses und andere Dörfer besuchen will, braucht etwas Pionier- und Abenteuergeist – und tut dies auf eigene Gefahr, wenn man halb eingestürzte Kirchen und Häuser betritt. Touristische Infrastrukturen sind gewöhnlich nicht vorhanden.
Wo kein Wasser floss: Peñalcázar, Provinz Soria
In graubraunen Felsfarben liegt Peñalcázar regelrecht getarnt auf der Hochebene eines Kalksteinmassivs. Eine Straße führt nicht hinauf. Es steht ein knapp halbstündiger Fußmarsch ab einer Piste nahe dem Ort La Quiñonería an, in dem selbst nur ein paar Menschen wohnen - hier, rund 140 Kilometer westlich von Saragossa.
Peñalcázar ist ein Geisterdorf par excellence, den scharfen Winden und eisigen Wintern ausgesetzt. Es thront 1.200 Meter hoch über den Nachbarhügeln und Kornfeldern und stach im Mittelalter, als in Spanien die Kämpfe zwischen Mauren und Christen tobten, durch seine Festung heraus.
Erhalten hat sich zum Abgrund hin ein Burgmauerstück mit Zinnen. Die Reste der Kirche und Häuser scheinen aus dem Fels zu wachsen. Wirtschaftliche Basis waren Viehzucht und Landwirtschaft. Aus heutiger Sicht unvorstellbar: Es gab kein fließendes Wasser, nur einen Brunnen im Tal. Die Bewohner schafften Wasservorräte auf den Rücken von Lasttieren herauf.
Zistrosen in Mauerritzen: Aldealcardo, Provinz Soria
An der Pistenzufahrt steht das Ortsschild von Aldealcardo noch, das Leben erlosch 1975. Der Pfarrer kam zur Sonntagsmesse auf einem Esel angeritten. Heute wächst Gras aus der Haube des klobigen Kirchturms.
Im Innern des Gotteshauses sind die Gewölbe weitgehend intakt. Dort, wo sich vormals der Altarraum befand, verunziert ein buntes Kopfgemälde neueren Datums die Wand.
Irgendwer hat auf dem staubigen Boden ein Kreuz aus Steinen drapiert. Draußen zwischen den Hausruinen wachsen Zistrosen, Disteln, gelbe Strohblumen. Aldealcardo liegt etwa 160 Kilometer nordöstlich von Saragossa
Wo wieder Leben einkehrt: San Vicente de Munilla, La Rioja
Über die Hygiene von damals sagt Angelines Martínez: „Wir wuschen uns aus Kübeln und verrichteten unsere Geschäfte in Töpfen, die wir zu den Tieren in die Stallungen kippten.“
Leichten Herzens verließ die heute 74-Jährige das Bergdorf San Vicente de Munilla, als sie 16 Jahre alt war. Das hatte seinen Grund. Die Schuhfabriken im Talort Munilla, wo sie selbst zu arbeiten begonnen hatte, wanderten in die Städte ab. Die Familien zogen hinterher.
Martínez verspürt Nostalgie, wenn sie in ihr Heimatdorf zurückkehrt. Ihr 55-jähriger Sohn Jesús Ángel Pellejero ist der Vorsitzende einer Vereinigung, die sich um die Pflege des Dorfbildes kümmert und alljährlich Anfang Juni ein Fest für die einstigen Bewohner und deren Nachkommen organisiert.
In den 1980er-Jahren zogen Hausbesetzer ins Dorf; einige Häuser wurden im Laufe der Jahre saniert, doch der Großteil ist nach wie vor sich selbst überlassen.
Zu den jüngst nachgerückten Neubürgern zählt das spanisch-deutsche Paar Alberto Varela Lasuen und Jana Knorrenschild, er Bildhauer, sie Hebamme für Hausgeburten. „Wir führen ein alternatives Leben“, erzählt Knorrenschild, die aus Düsseldorf stammt. „Für mich ist hier der beste Platz auf der Welt“, sagt Lasuen. „Die Ruhe gibt Raum, mich selber zu finden.“
Nur noch Fragmente: Turruncún, La Rioja
Unterhalb der Kirche und der Häuserskelette, die sich über das Hügelgrün ziehen, rauschen Rennradler und Autofahrer auf der Landstraße achtlos vorbei. Wer den Pistenabzweig nimmt, erreicht ein Picknickareal und den Zugangspfad nach Turruncún.
Es ist alles noch da, nur fragmentarisch, sogar der Friedhof mit fünf verbliebenen Kreuzen. Schmetterlinge tanzen. In den Gräsern hängen Tropfen vom letzten Regenguss.
Nach und nach erobert sich die Natur ihr Terrain zurück. Sie war es auch, die die Entwicklung der Entvölkerung wohl alles andere als ausbremste, denn 1929 wurde Turruncún von einem Erdbeben heimgesucht. Wer heute kommt, spürt auch hier den morbiden Charme eines Lost Place.
Etappenziel für Wanderer: Ribera, Baskenland
Oft kreisen Gänsegeier am Himmel über Ribera, das mitten im baskischen Naturpark Valderejo liegt und ein Zwischenziel von Wanderern auf dem Weg zur Schlucht des Flüsschens Purón ist. Für deren Reiz fehlte den Einwohnern sicher der Blick.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren es noch 94, Ende der 1960er-Jahre kam es zur Aufgabe. Im oberen Ortsteil erhebt sich die Kirche zu Ehren des Erzmärtyrers Stefan. Neben dem Portal haben sich Kapitelle über die Zeiten gerettet. Eines zeigt den Kopf eines glupschäugigen Türwächters, das zweite ein Duell von Ehrenmännern mit Schutzschilden vor den Körpern.
Wer sich am Informationszentrums von Lalastra auf den Wanderweg am Fluss Purón macht, kommt an Ribera vorbei.
Dann kam der Stausee: Ruesta, Aragonien
Wahrzeichen von Ruesta ist das Turmdoppel der maurischen Festung aus dem Mittelalter, zu dem ein verschlungener Pfad hinführt. In der Tiefe schimmert das Verhängnis des Dorfes friedvoll in Blaugrün-Tönen: der Stausee von Yesa, der zu Beginn der 1960er-Jahre die wichtigen Anbaugebiete flutete und Existenzen zerstörte.
Heute quartieren sich am Ortsrand Jakobspilger in einer Herberge ein, machen Ausflügler auf einer Kneipenterrasse Station. Ruesta, in den Pyrenäen gelegen, zählt zu den sehr wenigen verlassenen Dörfern Spaniens, in denen ansatzweise eine touristische Infrastruktur entstanden ist. Die Chilenin Carolina Proessel hilft überall mit. Seit einem Jahr lebt die 28-Jährige als eine der wenigen Neusiedler hier.
Auch sie genießt die Ruhe und sagt: „In Europa wollte ich etwas Ungewöhnliches finden.“ Das ist ihr gelungen. Es sei überhaupt nicht langweilig. Aber sicher nichts für jeden, sagt sie.
Am Pilgerpfad gelegen: Manjarín, Provinz León
Das Bergsträßchen, das sich hier mit dem Jakobsweg deckt, zieht sich von Anfang bis Ende durch Manjarín. Brombeergestrüpp wuchert aus Mauern. Dahinter weiden Rinder. Viele Menschen lebten nie in dem im 12. Jahrhundert gegründeten Weiler.
Der Verfall des Dorfes, seit Beginn des 19. Jahrhunderts dauerhaft unbewohnt, schreitet fort. Dass dies nicht sein muss, zeigt Foncebadón, der Ort vor Manjarín. Bis zur Jahrtausendwende lag Foncebadón am Boden – und feierte durch den Boom auf dem Jakobsweg Wiederauferstehung aus Ruinen.
Links, Tipps, Praktisches:
Reisezeit: Frühling bis Spätherbst.
Anreise: Wichtigster Flughafen in Nordspanien ist Bilbao, dann weiter im Mietwagen.
Tipps: Für die Erkundung von Geisterdörfern empfehlen sich festes Schuhwerk und lange Hose, um besser gegen stachelige Pflanzen geschützt zu sein. Von Entdeckungen bei Dunkelheit ist abzuraten.
Weitere Informationen: Hobbyforscher Faustino Calderón hat auf seiner Webseite (lospueblosdeshabitados.net) Dörfer aus ganz Spanien zusammengestellt. Die Seite des Freundeskreises des Historischen Museums (Museo Numantino) in Soria (despoblados.amigosdelmuseonumantino.es „zur Bestandsaufnahme der historischen entvölkerten Gebiete“ beschränkt sich auf die Provinz Soria. (dpa)