„Geht auf gar keinen Fall“Verband will heikle Turn-Fotos verhindern – auch in Deutschland ein Thema

Sarah Voss aus Deutschland turnt am Schwebebalken.

Sarah Voss aus Deutschland turnt am 14. April am Schwebebalken. Aus einem anderen Winkel können Spagat-Fotos heikel sein

Beim Turnen gehört er unweigerlich dazu: der Spagat. Doch die Fotos, die bei dieser und ähnlichen Figuren entstehen können, sind durchaus heikel. Der Schweizer Turnverband geht nun dagegen vor.

Wenn Turnerinnen in Wettkämpfen ihr Können zeigen, gehören Übungen dazu, die schwindelig machen: Saltos, Schrauben, Schwünge, und Balanceakte etwa auf dem Balken, die so aussehen, als könnten die Sportlerinnen die Gravitationsgesetze außer Kraft setzen. Dazu gehören Spagate und Grätschen.

Wenn Fotografen und Fotografinnen die Turnerinnen dabei frontal ablichten, können die Fußspitzen noch so perfekt gestreckt sein, sie lenken den Blick unwillkürlich auf den Schritt. Viele Sportlerinnen fühlen sich dabei unwohl, und manchmal werden solche Fotos im Internet auch noch manipuliert.

Deutsche Turnerinnen setzten mit ihren Anzügen ein Zeichen

Der Schweizerische Turnverband (STV) hatte jetzt vor der jüngsten Turnfestsaison im Juni Richtlinien gegen sexualisierte Fotos veröffentlicht. Er bekommt dafür Applaus. Der deutsche Turnerbund (DTB) kann sich Ähnliches vorstellen, wie der Sprecher sagt.

Das Unbehagen im knappen Dress und manchmal „das Gefühl, nackt zu sein“ äußerte die deutsche Turnerin Sarah Voss (23) schon in Interviews. Mit ihren Kolleginnen Elisabeth Seitz (29) und Kim Bui (34) setzte sie bei der Europameisterschaft 2021 in Basel ein Zeichen. Die Turnerinnen traten nicht im üblichen Outfit mit hohem Beinausschnitt, sondern in Langbeinanzügen auf und brachten das Thema damit richtig ins Rollen.

Der STV zeigt auf seinem Merkblatt jetzt stilisiert „heikle Posen“, auf die Fotografinnen und Fotografen verzichten sollen. „Geht auf gar keinen Fall“ steht zum Beispiel neben der Illustration einer Bodenturnerin mit nach oben gespreizten Beinen. Bei anderen, etwa dem Spagat im Sprung, heißt es: „Hier kommt es auf den Aufnahmewinkel an“. Seitlich statt frontal sei in der Regel in Ordnung. „Wir wollten ein Zeichen setzen, dass wir solche Fotos nicht mehr wollen“, sagt Naomi Kempter, beim STV Mitarbeiterin in der Abteilung Ethik, der Deutschen Presse-Agentur. „Es war höchste Zeit für so etwas.“

Wie mit jungen Leistungssportlerinnen Jahrzehnte umgegangen wurde, kam in den vergangenen Jahren ans Licht. In vielen Ländern wurden nicht nur rücksichtslose Trainingsmethoden aufgedeckt. In den USA wurde der langjährige Arzt beim US-Turnverband Larry Nassar (59) 2017 wegen sexueller Übergriffe in mehr als 250 Fällen zu einer langen Haftstrafe verurteilt.

In der Schweiz beschwerten sich 2020 Athletinnen über Erniedrigungen in einem Ausbildungszentrum. Im Zuge der Aufarbeitung sei vieles überdacht worden, sagt Kempter, die früher selbst in der rhythmischen Sportgymnastik aktiv war. So kam auch das Thema Foto auf den Tisch. „Die Wichtigkeit dieser Themen wird in letzter Zeit noch stärker wahrgenommen“, sagt sie.

Fotografen und Fotografinnen droht Verlust der Akkreditierung

Beim Deutschen Turnerbund sind heikle Fotos auch ein Thema, wie Sprecher Torsten Hartmann sagt. „Wir haben die Positionen für die Fotografen bei Wettkämpfen mittlerweile etwas angepasst“, sagt er. „Am Stufenbarren etwa vermeiden wir eine Position frontal vor dem Gerät, um Spreizsituationen direkt vor der Kamera zu vermeiden.“ Wenn der Verband heikle Fotos in der Presse oder auf Webseiten entdeckt, spreche er Fotografinnen und Fotografen auch direkt an.

Und wenn Angesprochene uneinsichtig sind? Der Verband werde nicht davor zurückschrecken, diese Personen als Fotografen nicht mehr zuzulassen, sagt Hartmann. Alle, die bei Anlässen des Verbandes fotografieren wollen, müssen sich akkreditieren, das heißt, ihre Personalien müssen ihre Auftraggeber nachweisen.

Jahrzehnte war es selbstverständlich, dass die jungen Mädchen in knappen Anzügen mit hohen Beinausschnitten turnten. Von Kampfrichtern hieß es oft, nur in solchen knappen Anzügen könne man die Leistung richtig beurteilen.

Turnerinnen, die teils schon mit elf, zwölf Jahren Höchstleistungen bringen, achten noch nicht darauf, wie solche Fotos wahrgenommen werden können. Das ändert sich mit dem Einsetzen von Pubertät und Menstruation, aber das galt lange als etwas, mit dem sie irgendwie selbst klar kommen sollten. Selbst stolze Eltern posten manchmal Fotos ihrer Sprösslinge in sozialen Medien, ohne sich im Klaren zu sein, dass sie falsch wahrgenommen werden könnten. Der Schweizer Verband will mit seinen Richtlinien alle sensibilisieren.

Dass inzwischen auch Ganzkörperanzüge oder kurze Gymnastikhosen getragen werden könnten, sei ein Fortschritt, sagt Kempter. Mit der Fotorichtlinie habe der Verband noch einen Schritt weitergehen wollen. „Athletinnen und Athleten sollen ihren Sport mit einem guten Gefühl ausüben können, unabhängig davon, was sie tragen oder wie sie fotografiert werden.“

Der Schweizer Verband hat auch die eigenen Webseiten durchforstet und manche Aufnahme ersetzt. Sie selbst kenne Aufnahmen aus ihrer aktiven Zeit, die sie heute problematisch findet, sagt Kempter. „Das Auge schult sich“, sagt sie. Der Medienverantwortliche des Schweizerischen Turnverbandes, Thomas Ditzler, ist zufrieden mit dem Echo auf die Fotorichtlinien. Gerade geht in der Schweiz die erste Turnfestsaison seit ihrer Veröffentlichung zu Ende. „Die Bilder, die ich gesehen habe, scheinen so, wie wir es uns wünschen“, sagte er. (dpa)