Krankheitswelle bei Lehrerinnen und Lehrern, leere Tische in der Schülerschaft, eine tatenlose Politik: Das Chaos an den Schulen ist kaum noch beherrschbar. Schulleitungen schlagen Alarm, eine Expertin erhebt schwere Vorwürfe gegen die Politik.
Kölner Schulen vor dem KollapsSchulleiter schlägt Alarm, Forscherin erhebt Vorwürfe
Verzweifelte Schülerinnen und Schüler, hilflose Eltern, ratlose Lehrerinnen und Lehrer: Kurz vor den Weihnachtsferien steht das Bildungssystem vor dem Kollaps. Neben Corona zirkulieren nach dem Ende der Infektionsschutz-Maßnahmen RS- und Influenza-Viren in den Klassenzimmern, während gleichzeitig in einem Bundesland nach dem nächsten selbst im ÖPNV die Maskenpflicht fällt.
Die Folge: Große Teile des Lehrpersonals und der Schülerschaft fehlt krankheitsbedingt, der Stoff ist kaum noch nachzuarbeiten. Genaue Zahlen, wie viele Schülerinnen und Schüler krankheitsbedingt ausfallen, gibt es vom Schulministerium auf Anfrage keine, lediglich die Corona-Infektionen werden veröffentlicht. Doch es brennt. Auch in Köln und dem Rheinland.
Es brennt an den Kölner Schulen
Martin Süsterhenn, Schulleiter an der Katharina-Henoth-Gesamtschule in Köln-Höhenberg, kommt gerade aus dem Arbeitskreis Kölner Gesamtschulen: „Überall ist es dasselbe Bild: Wir wissen nicht mehr, wie wir es stemmen sollen. Ein Fünftel der Belegschaft fehlt, viele Schülerinnen und Schüler sind krank, wir haben ganze Lehrgruppen zu Hause.“
Trotzdem müssen wegen des kurzen Schuljahres die Klassenarbeiten in Nordrhein-Westfalen unbedingt noch vor den Ferien durchgezogen werden. Und es gibt akut überhaupt keine Maßnahmen, um den Notstand aufzuhalten.
Jochen Ott, schulpolitischer Sprecher der SPD, forderte kürzlich, zumindest die Klassenarbeiten vor den Ferien auszusetzen, um den Druck von den Schülerinnen und Schülern zu nehmen. Mittelfristig ergriff die NRW-Landesregierung am Mittwoch (14. Dezember 2022) Maßnahmen, um auch das Grundschullehrer-Amt attraktiv zu machen – kurzfristig passiert nichts.
„Wir erleben eine totale Bildungskatastrophe“, sagt die Professorin Nina Weidmann-Sandig gegenüber EXPRESS.de. „Wir haben aus den Corona-Jahren nichts gelernt, haben gedacht, wir könnten weitermachen wie bisher. Das Ergebnis sehen wir jetzt: Kinder, die aus Angst, nicht mehr hinterherzukommen, immer mehr verzweifeln. Stress und psychische Krankheiten wie Depressionen oder Essstörungen sind die Folge. Eltern, die entweder selbst krank oder völlig ausgebrannt sind.“
Und Lehrerinnen und Lehrer, die über gesundheitliche Probleme klagen oder vor lauter Vertretungsstunden ihr Pensum nicht mehr absolviert bekommen. „Wir können das nicht mehr aufholen“, sagt Schulleiter Süsterhenn. „Wir müssten dringend die Lehrpläne entrümpeln, auf die Basics setzen. Die Kinder müssen Deutsch sprechen und schreiben lernen, rechnen können. Die brauchen kein Fach Wirtschaft, um durchs Leben zu kommen.“
Forscherin Weidmann-Sandig sieht ein Politikversagen: „Wir haben derzeit ein schwaches Familien- und ein schwaches Bildungsministerium“, sagt die Professorin und Autorin („Familie in Zeiten der Corona-Pandemie“). „Die Kultusministerien der Länder glauben, sie können die Sache aussitzen. Doch das geht nicht. Die Last wird bei den Schülern und den Eltern abgeladen. Das führt auch dazu, dass die Bildungsschere immer weiter aufgeht.“
Luftfilter, die neben Corona auch RS- und Influenza-Viren aus der Luft holen, werden aus fadenscheinigen Gründen nicht eingesetzt. Eine Maskenpflicht sei „politisch tot“, versichern Insider, obwohl es in Umfragen immer noch eine Mehrheit für Maßnahmen gibt. Mit der Eigenverantwortung ist es nicht weit her. Im Gegenteil: Ob Lehrpersonal oder Schülerschaft, diejenigen, die sich noch mit Maske vor Krankheiten schützen wollen, sehen sich zunehmend abfälligen Kommentaren und Ausgrenzung ausgesetzt.
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Soziologin Weidmann-Sandig hat gerade an der Evangelischen Hochschule in Dresden eine „Schüler-Uni“ zum Thema „Jugend und Corona“ abgehalten. „Die Jugendlichen fragen sich schon: Was wird aus uns? Sind wir auf die Zukunft vorbereitet?“ Aber die Politik habe es versäumt, rechtzeitig auf digitale Lerninhalte zu setzen. Immerhin: Im kommenden Jahr fällt ein Tag Schule aus, an dem die Lehrerinnen und Lehrer in Sachen Digitalisierung fortgebildet werden sollen.
Doch damit wird man kaum die jahrelangen Defizite aufholen können. Rätselhaft ist es, warum man, trotz des Wissens um die Gefahren weiterer Wellen in diesem Winter, nicht die Sommerferien dazu genutzt hat, die Lehrerinnen und Lehrer zusätzlich digital auszubilden und die Schulen auszustatten, sodass beispielsweise Unterrichtsstunden gestreamt werden können und im Fall einer Viruswelle auf Distanz unterrichtet werden kann.
Keine Immunität bei Kindern in Sicht
Dabei hatte die Politik stillschweigend im Sommer den Infektionsdruck auf die Schülerschaft erhöht – die Infektionszahlen sind seit Monaten hoch. Das hat auch in Schleswig-Holstein Finanzministerin Monika Heinold kürzlich zugegeben und damit den Wegfall der ÖPNV-Maskenpflicht begründet.
Die erhoffte Normalität durch Immunität ist aber nicht in Sicht. Im Gegenteil: Andere Viren rauschen durch die jungen Jahrgänge. In Deutschland sind es RS-Viren und Influenza.
In Großbritannien sind bereits mindestens 19 Kinder an Streptokokken verstorben. Wales verzeichnet 850 Scharlach-Fälle – 34-mal mehr als in den Vorjahren. Die durch Corona geschwächten Immunsysteme, so vermuten viele Forscherinnen und Forscher, haben den anderen Virenstämmen nichts mehr entgegenzusetzen. Die einzige Hoffnung in der Politik scheinen die nun anstehenden Weihnachtsferien zu sein. Doch das wirkt wie eine Bankrotterklärung. Was, wenn sich das Infektionsgeschehen nicht legt?