Der Fachkräfte- und Personalmangel geht auch an der Justiz in NRW nicht vorbei. Der (reale) Richter Thorsten Schleif thematisiert das in einem (weitgehend fiktiven) Krimi. Zuspruch gibt's von Gewerkschaft und Richterbund.
„Muss mehr kosten als ein Espresso“Häftlinge frei wegen Personalmangel: NRW-Richter wird deutlich
Thorsten Schleif (42) ist Vorsitzender des Schöffengerichts und Jugendrichter am Amtsgericht Dinslaken. Geht mit seiner Zunft ins Gericht, eckte schon mit zwei Sachbüchern in Teilen der Kollegenschaft heftig an. Jetzt hat sich der streitbare Jurist der leichteren Muse zugewandt und einen verboten lustigen Krimi geschrieben – in dem er mit seiner Kritik am System nicht spart. Leider zu Recht...
Ohne zu viel zu verraten: Siggi Buckmann, der heldenhafte Protagonist in Richterrobe aus „Richter morden besser“ könnte wirklich und wahrhaftig den perfekten Mord verübt haben. Viel weniger perfekt ist allerdings, was der reale Richter Thorsten Schleif durch seine Roman-Figur transportiert: Den Personalmangel in der Justiz. Mit teilweise dramatischen Folgen. So musste das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt Ende Juni die Freilassung von sechs insgesamt sechs Männern – allesamt mutmaßliche Gewaltverbrecher – aus der U-Haft anordnen.
Zu wenige Richter: Oberlandesgericht muss mutmaßliche Straftäter frei lassen
Hintergrund der Entscheidung des OLGs sind Verfahrensverzögerungen am Landgericht Frankfurt. In einem der Fälle geht es um vier Verdächtige, die gemeinschaftlich versucht haben sollen, am 3. Juli 2021 an einem Bahnhof zwei Menschen zu töten. Die beiden Opfer wurden lebensgefährlich verletzt. Die Festgenommenen saßen laut OLG teils bereits seit knapp zwölf Monaten in U-Haft.
Die Staatsanwaltschaft Frankfurt habe im Januar 2022 Anklage erhoben. Die Schwurgerichtskammer am Landgericht habe seitdem weder ein Hauptverfahren eröffnet, noch dieses terminiert. Der Grund dafür liege an einer strukturellen Überlastung der zuständigen Strafkammer mit zahlreichen Haftsachen, die bei nahezu täglichen Gerichtsverhandlungen nicht mehr zu bewältigen seien.
„Eine Katastrophe – so etwas das darf nicht passieren“, sagt Thorsten Schleif. „Hätte der Staat rechtzeitig reagiert, wären weitere Strafkammern eingerichtet, Richter womöglich eingestellt worden. Da sind wir genau beim Punkt: Wenn man genug Geld hätte, könnte das gehen.“
Und der Ruf nach mehr Personal in der Justiz – von Richterinnen und Richtern sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälten über die Verwaltung bis hin zu Kräften in den JVAs – ist laut.
Justiz: Personalmangel auch bei Richter und Staatsanwälten
Sven Rebehn, Vorsitzender des Deutschen Richterbundes, sagt: „Die aktuellen Fälle von U-Haftentlassungen werfen erneut ein Schlaglicht auf die hohe Arbeitsbelastung vieler Gerichte und Staatsanwaltschaften.“
Es fehle der Justiz nach wie vor deutlich an Staatsanwälten und Strafrichtern, so dass sie selbst vorrangige Haftsachen nicht immer mit der rechtsstaatlich gebotenen Beschleunigung erledigen könne.
Schleif spricht in seinem Krimi – durch den idealistischen Richter Buckmann – auch die „Baustellen der Justiz“ an: „Marode Gerichtsgebäude, zu wenig Personal (...). Das System schien baufällig, kaputt und teuer.“
Conclusio von Amtsrichter Schleif: „Das deutsche Rechtssystem ist zu billig!“ Schleif, der in Bonn Rechtswissenschaften studiert hat, führt aus: „Das Funktionieren der Justiz, der Gerichte, der Staatsanwaltschaft und der Gefängnisse kostet den Steuerzahler in NRW ziemlich genau 40 bis 45 Cent pro Tag. Das ist – bildlich gesprochen – etwa ein Espresso in der Woche. Und für dieses Geld haben wir momentan eine halbwegs funktionierende Justiz, die aber – natürlich – auf Dauer nicht mehr das bringen kann, was sie mal gebracht hat. Weil die Kosten überall gestiegen sind, man aber eben nicht mehr investiert hat.“
NRW: Cum-Ex, Missbrauchsfälle – Verfahren werden immer komplexer
Georg Kaufhold, Sprecher des Verdi-Arbeitskreises Justiz in NRW, schildert im Gespräch mit EXPRESS.de einen weiteren und entscheidenden Faktor der „Baustelle Justiz“. Den massiven Bedarf an Personal in Bereichen, die sich „im Hintergrund“ um Verwaltungsaufgaben kümmern und mit dem Verfassen von Ladungen, Anträgen, Schriftsätzen etc. das Rechtsrad am Laufen halten. Im Bereich der Rechtspfleger sowie bnei Amtsanwältinnen und -anwälten in NRW sind dies Kaufhold zufolge ca. 400 Stellen, bei den Justizfachwirten rund 800 Stellen. Außerdem gilt es, 933 Stellen im Justizvollzug zu besetzen.
Dazu komme noch, dass bis zum 1.1.2026 alle Gerichte in Deutschland digital arbeiten sollen – „eine Herausforderung“, wie Kaufhold sagt. Genau wie immer komplexer werdende Prozesse wie Cum-Ex- oder Missbrauchsverfahren mit all ihren furchtbaren Details. „Die Arbeitsbelastung ist enorm“, sagt Kaufholds Verdi-Kollege Dirk Walter, er habe schon Büros gesehen, in denen sich die Akten derart stapelten, dass die Fenster kaum noch sichtbar waren ...
NRW: Probleme beim Personal, viele offene Stellen
Das Land NRW hat immer größere Probleme, offene Stellen zu besetzen. Zum 1. Januar 2022 waren in der Landesverwaltung von Nordrhein-Westfalen insgesamt knapp 17.700 Stellen unbesetzt. Das geht aus einem Bericht des Finanzministeriums hervor, den die SPD-Fraktion im Landtag angefordert hatte.
Der Justiz fehlten demnach 2700 Mitarbeitende, darunter 400 Staatsanwälte. 640 neue beziehungsweise zusätzliche (Plan-)Stellen wurden im Justizhaushalt 2022 für NRW bewilligt. Die verteilen sich auf rund 150 Gerichte und Staatsanwaltschaften im Land, wie Georg Kaufhold, der auch Hauptpersonalrats-Vorsitzender im NRW-Justizministerium ist, erklärt. Die Gewerkschaft begrüßt den Justizhaushalt 2022 für NRW als einen Schritt in die richtige Richtung.
Wie in anderen Branchen auch, schlagen Fachkräftemangel und beginnende Pensionierungswelle der Babyboomer bei der Justiz voll durch. Betroffen sind fast alle Laufbahnen über Service-Einheiten, Rechtspflege sowie den Bereich Amtsanwälte. Und von jetzt auf gleich Nachwuchs zu rekrutieren, ist schwierig – weil an Ausbildungszeiten gebunden.
In Köln sorgte im Mai der Brandbrief von Generalstaatsanwalt Thomas Harden für Aufsehen. Harden hatte darin zu einem „Freiwilligentag“ aufgerufen. Grund: Berge an liegengebliebener Post, die zu Chaos in der Staatsanwaltschaft geführt hatten. Rund 70 Freiwillige – vom Justizwachtmeister bis zum Generalstaatsanwalt, flankiert von Kolleginnen und Kollegen aus Aachen und Bonn – lichteten den Post-Wust.