Vor 100 Jahren aus Kanal gezogenMythos Anastasia: Auferstehung einer Zarentochter

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Anna Anderson –  die falsche Anastasia auf einem Foto aus dem Jahr 1955.  

von Maternus Hilger  (hil)

Berlin – Es war ein fürchterliches Massaker: In der Nacht vom 16. auf den 17. Juli 1918 erschoss ein bolschewistisches Killerkommando auf Befehl Lenins im Keller des Ipatjew-Hauses in Jekaterinburg die dort gefangene Zarenfamilie – Nikolaus II. (50), seine Frau Alexandra (46) und ihre Kinder Olga (22), Tatjana (21), Maria (19), Anastasia (17), den Thronfolger Alexei (13) und einige treue Bedienstete der Romanows.

Doch starben wirklich alle?

Anastasia Romanow: Immer wieder gab es Hochstapler

Die mit Schwefelsäure und Feuer entstellten Leichen der Romanows hatten die Henker in einem nahen Waldstück verscharrt. Schon bald machten Gerüchte die Runde, dass es Überlebende geben könnte.

Alles zum Thema Polizeimeldungen

Immer wieder tauchten Frauen und Männer auf, die sich als Zarenkinder ausgaben. Die berühmteste war Anna Anderson, die behauptete, Großfürstin Anastasia zu sein.

Anastasia Romanow: Anna Andersons Identität war lange unklar

Der Mythos Anastasia – eine phantastische Geschichte, die lange die Schlagzeilen auf dem Boulevard beherrschte, viele Menschen zu Tränen rührte und Hollywood zu rührseligen Kassenschlagern inspirierte. Ein Märchen zu schön, um wahr sein.

So war es denn auch, Anna Anderson war eine Hochstaplerin, die die Öffentlichkeit zum Narren hielt. Doch bis sie als Lügnerin entlarvt werden konnte, sollten Jahrzehnte vergehen.

Anastasia Romanow: Unbekannte wird aus dem Berliner Landwehrkanal gerettet

Die „Auferstehung“ Anastasias begann vor 100 Jahren in Berlin, als man am 17. Februar 1920 eine lebensmüde, junge Frau aus dem Landwehrkanal rettete und als „Fräulein Unbekannt“ in eine Nervenheilanstalt brachte.

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Die Zarenfamilie im Jahr 1909: Nikolaus II. Alexandra (M.), die Töchter Maria, Tatjana, Olga und Anastasia (v.l.n.r.) sowie Thronfolger, Zarewitsch Alexei.

Einer Mitpatientin fiel auf, dass die Neue eine gewisse Ähnlichkeit mit der jüngsten Tochter des Zaren hatte, deren Foto sie in einer Illustrierten gesehen hatte. Ihre Entdeckung behielt sie nicht für sich, und schnell wuchs das Interesse an der rätselhaften Fremden.

Romanow-Massaker war ein Tabuthema in der Sowjetunion

Und es dauerte nicht lange, da behauptete die Frau, die sich später Anna Anderson nennen sollte: Ja, sie sei Anastasia und hätte wie durch ein Wunder die Mordnacht überlebt.

Viele glaubten ihr, zumal es weder Spuren von den Gräbern der Zarenfamilie noch Details über die Hinrichtung gab. In der Sowjetunion war das Thema tabu. Die kommunistischen Machthaber hatten nur die Exekution des Zaren bestätigt und behauptet, der Rest der Familie sei in Sicherheit.

Anastasia-Romanow-Hochstaplerin sprach kaum Russisch

Doch schon bald kamen erste Zweifel auf. Russische Adelige im Exil wunderten sich bei Treffen mit der vermeintlichen Großfürstin, dass sie kaum Russisch sprach und ihr Wissen über die Zarenfamilie dürftig war. Sie selbst erklärte das stets mit den traumatischen Erlebnissen in Jekaterinburg.

Auch die Polizei schien der Fall nicht interessiert zu haben. Sonst hätte sie feststellen können, dass seit dem 9. März 1920 eine Fabrikarbeiterin namens Franziska Schanzkowsky, die Tochter eines Bauern aus Westpreußen, als vermisst gemeldet worden war. Hätte sie nachgehakt, wäre Anna schnell als Betrügerin enttarnt worden. So aber konnte sie weiter die Großfürstin spielen.

Anastasia Romanow: Falsche Zarentochter heiratet amerikanischen Millionär

Ab 1938 machte sie sogar vor Gericht Ansprüche auf Vermögenswerte der Zarenfamilie geltend. Letztinstanzlich entschied erst 1970 der Bundesgerichtshof, dass es keine Beweise für ihre Behauptung gebe, Großfürstin Anastasia zu sein. Um diese Zeit war der ganz große Hype um sie aber längst vorbei.

Inzwischen war sie nach Charlottesville im US-Bundesstaat Virginia ausgewandert, hatte dort einen Millionär geheiratet. Nach kurzer Zeit aber verfiel sie in Depressionen und auch sozial ging es bergab. Zuletzt lebte das Paar in einer heruntergekommenen Wohnung.

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In ihren späteren Jahren ging es mit der depressiven Anna Anderson, die sich als Großfürstin Anastasia ausgab, sozial bergab.

Bis zu ihrem Tode am 12. Februar 1984 im Alter von 87 Jahren blieb Anna Anderson dabei, Anastasia zu sein. Begraben ist sie im bayrischen Seeon, dem Wohnsitz von Gönnern. Ironischerweise steht auf ihrem Grabstein nicht ihr Geburtsjahr 1896, sondern 1901 – das Jahr, in dem die Anastasia zur Welt gekommen war.

Anastasia Romanows Leiche erst 1991 geborgen

Doch es sollte noch weitere zehn Jahre dauern, bis klar war, dass Anna eine Lügnerin war. Möglich wurde das durch die Entdeckung der sterblichen Überreste der Zarenfamilie. Schon in den 70er Jahren hatte russische Hobbyhistoriker in den Wäldern bei Jekaterinburg nach den Gräbern gesucht und menschliche Knochen gefunden.

Doch erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gaben sie ihr Geheimnis preis. 1991 schließlich bargen Experten die Überreste. Sie stammten vom Zaren, seiner Frau, den Töchtern Olga und Tatjana und einer weiteren Tochter.

Prinz Philip liefert DNA zur Identifizierung der Zaren

Dass Letztere Anastasia war, konnte erst Jahre später geklärt werden, als man auch das Grab des Zarewitsch und seiner Schwester Maria entdeckte.

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Mit einer Blutspende von Prinz Philip, dem Mann von Queen Elizabeth II., konnte die Zarenfamilie identifiziert werden. 

DNA-Tests brachten den Durchbruch. Entscheidend half dabei der Mann von Queen Elizabeth II., Prinz Philip, mit seiner Blutprobe. Er ist der Großneffe der Zarin, einer geborenen Alix von Hessen-Darmstadt.

Ad acta gelegt werden konnte jetzt endlich auch der Fall Anna Anderson. Blut- und Gewebeproben von ihr, die nach Arzt- und Klinikaufenthalten aufbewahrt worden waren, wurden mit denen der Zarin und ihrer noch lebenden Verwandten abgeglichen.

Ergebnis: Anna war keine Romanow. Warum sie sich als Anastasia ausgab, bleibt ein Rätsel. Ihr Geheimnis nahm sie mit ins Grab.