Die Corona-Zahlen in Deutschland erreichen täglich neue Rekorde, gleichzeitig stagniert die Impfquote, zu wenige wollen eine Spritze. Was ist los mit dem Land im Herzen Europas, dem einstigen Corona-Musterschüler? Unsere Nachbarn zeigen sich besorgt.
Unser Corona-Chaos macht AngstEuropa blickt geschockt nach Deutschland
Köln/Berlin. In Deutschland wurden am Mittwoch (10. November) vom RKI erneut neue Höchststände gemeldet: Knapp 40.000 Corona-Neuinfektionen, so viele wie nie seit Beginn der Pandemie. Die Sieben-Tage-Inzidenz liegt bei 232,1 – vor einem Monat noch lag sie bei 66,1. Über 230 Menschen starben binnen eines Tages. Seit Wochen stagniert die Impfquote bei knapp 70 Prozent.
Und wer einen Blick auf die Deutschland-Karte mit den Sieben-Tage-Inzidenzen in den einzelnen Landkreisen und kreisfreien Städten der Bundesrepublik schaut, ist schockiert: Fast der gesamte Südosten sowie Sachsen und Thüringen sind lila. Im bayerischen Rottal-Inn beträgt die Inzidenz unglaubliche 1104,3, in Sonneberg (Thüringen) 787,1.
Und während die Zahlen steigen, sucht die Politik händeringend nach einer Lösung für das Problem: Impfpflicht? 2G, 3G? Ein Lockdown für Ungeimpfte? Es scheint, als wären die Entscheidungsträger überrascht von dem Herbst und der vierten Welle. „Wir haben jetzt im Moment eine echte Notfallsituation“, so fasste es der Virologe Christian Drosten zuletzt im NDR-Podcast „Das Coronavirus-Update“ zusammen. „Wir müssen jetzt sofort etwas machen.“
Vorschläge, die politisch auf dem Tisch liegen, wirkten nicht dort, wo die Sorgenzonen in der Gesellschaft sind. Die jüngsten Beschlüsse in Bayern oder Sachsen seien „keine Garantie, dass das wirklich dazu führt, dass dieser Inzidenzanstieg durchbrochen wird“.
Deutschland im Corona-Chaos. Es ist ernst im Moment. Was ist los mit dem Land, das in der EU immer vorangegangen ist, das lange als Musterschüler galt?
Corona: Europa blickt geschockt nach Deutschland
Die angespannte Situation in unserem Land bleibt auch bei unseren europäischen Nachbarn nicht unbemerkt, dort blickt man mit großer Sorge und auch geschockt auf die Corona-Entwicklungen in Deutschland – vor allen Dingen der Süden Europas, wo die Menschen im vergangenen Jahr so sehr gebeutelt wurden von der Pandemie. Denn dort sind die Inzidenzen besonders niedrig, die Impfquoten sind hoch.
In Portugal liegt die Sieben-Tage-Inzidenz bei 75,9 (Stand: 10. November), in Spanien bei gerade einmal 32,3. Italien: 68,1. In Frankreich beträgt sie 91,5. Alle Länder haben eine Impfquote von über 70 Prozent, in Portugal und Spanien sogar von fast 90 Prozent – sie haben mit die höchsten Quoten weltweit.
Die Sorge in den Ländern mit Blick auf Deutschland ist groß: „Deutschland hat, trotz der zur Verfügung stehenden Impfstoffe, eine sehr traurige Bilanz“, so formuliert es die französische Zeitung „L'Express“. Merkel geht, eine neue Regierung kommt, die Machtübergabe führe nun zu Handlungsfähigkeit.
„Wir schauen mit Erstaunen und ein bisschen Kummer darauf, was in Deutschland passiert“, so blickte der spanische Politökonom Miguel Otero im „Spiegel“ auf den „deutschen Patienten“. Die spanische Tageszeitung „El Mundo“ titelte über die vierte Welle bei uns: „Merkels letzte große Mission“. Sie drohe nun, verloren zu gehen. Die spanische Zeitung „La Vanguardia“ kommentierte am Mittwoch sehr kritisch die geringere Impfbereitschaft in Deutschland und Osteuropa: „Es gibt keine Rechtfertigung für diese Notlage, jetzt, wo Impfungen ausreichend zur Verfügung stehen.“
Corona-Lage in Südeuropa: Vertrauen in Gesundheitssystem ist groß
Was machen die Länder anders? Die Impferfolge von Spanien und Portugal fußen auf einem großen Vertrauen in die Impfstoffe und in das Gesundheitssystem. Anders als etwa in Deutschland gehen Spanier nicht direkt zum Arzt, wenn sie sich krank fühlen, sie gehen in ein staatliches Gesundheitszentrum. Das wiederum verweist Patienten an die Ärzte. Dass das System gut funktioniere, sagen Experten immer wieder in Interviews.
Im Zuge der positiven Entwicklung sind inzwischen auch fast alle Corona-Beschränkungen auf der Iberischen Halbinsel weggefallen. Doch noch immer besteht in Innenräumen und in Bussen und Bahnen weiter Maskenpflicht. In Portugal muss man den Mund-Nasen-Schutz unter anderem nur noch in öffentlichen Verkehrsmitteln, Theatern, Kinos und großen Einkaufszentren tragen. Im Freien darf die Maske abgesetzt werden.
Frankreich: Autoritäre Corona-Politik hat Erfolg
Und Frankreich? Einige Maßnahmen, die in Deutschland diskutiert werden oder schon gelten, aber nicht konsequent umgesetzt werden, sind dort längst Standard. Bereits seit September gilt eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen, etwa Pflegeberufe. Macron hatte den Impfdruck erhöht und angekündigt, Impfverweigerer aus diesen Berufen ohne Gehalt freizustellen. Zudem muss im Land in Cafés, Restaurants, Kinos ein Gesundheitspass vorgezeigt werden, der streng kontrolliert wird. Wer nicht geimpft oder genesen ist, muss sich seit Mitte Oktober kostenpflichtig testen lassen – auch wenn er nur in einem Café sitzt.
Deutschland liegt im europäischen Epizentrum, nicht nur bei uns, auch bei anderen Ländern auf dem Festland sind die Zahlen hoch. Vor allen Dingen in Osteuropa: Hier liegen die Quoten teilweise deutlich niedriger als bei uns – und die Infektionszahlen deutlich höher. In Georgien liegt die Sieben-Tage-Inzidenz bei rund 858. Aber auch im Nachbarland Österreich noch immer über 700 – dreimal so hoch wie in Deutschland.
Ein Grund: In Westeuropa sind die Österreicher Schlusslicht, wenn es um die Impfquote geht. Gerade einmal 63 Prozent haben bisher vollständigen Impfschutz. Die Reaktion: Am Montag trat für Lokale, Veranstaltungen und einige Dienstleistungen wie Friseursalons die 2G-Regel in Kraft. Ungeimpfte haben dort keinen Zutritt mehr.
Corona: Drosten warnt vor Tausenden weiteren Toten
Wie Deutschland durch die vierte Welle kommt, ist noch ungewiss. Für Drosten ist der Fahrplan jedoch klar: „Wir sind in einer schlechten Situation: Wir haben 15 Millionen Leute, die eigentlich hätten geimpft sein könnten und die geimpft sein müssten.“ Er stellt klar: „Wir müssen die Impflücken schließen.“
Sollte es beim Impfen keinen Fortschritt geben, müsse sich Deutschland auf mindestens 100.000 weitere Corona-Tote vorbereiten, „bevor sich das Fahrwasser beruhigt“, so Drosten. „Das ist eine konservative Schätzung.“