Nach Schätzungen befinden sich rund 600 verwundete ukrainische Soldatinnen und Soldaten in dem von den Besatzern eingekesselten Azovstal-Stahlwerk in Mariupol. 40 von ihnen seien in sehr ernstem Zustand.
Ukraine-KriegDie Hölle von Mariupol: „Gliedmaßen werden einfach abgeschnitten“
Der Eurovision Songcontest hat erneut das Schlaglicht auf den Krieg in der Ukraine geworfen. Deutlicher hätte der Sieg für die ukrainische Band Kalush Orchestra kaum ausfallen können. Doch die Bühnenlichter sind aus und nicht nur für die Band geht der Alltag, geht der Krieg weiter.
Auch alle anderen Ukrainerinnen und Ukrainer bangen um Neuigkeiten aus ihrem Land. Besonders die dramatische Lage in und um das Stahlwerk Azovstal steht in Fokus.
Das weitläufige Gelände aus der Sowjetzeit wurde seit dem Kriegsausbruch zu einem wichtigen Zufluchtsort für die Bürgerinnen und Bürger von Mariupol. In den vergangenen zwei Monaten war das die letzte Bastion des ukrainischen Widerstands in der belagerten Stadt – eine, welche die russische Armee nach Ansicht des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj „demonstrativ zerstören“ will.
Ukraine-Krieg: Die Eingeschlossenen von Mariupol
Nach zähen Verhandlungen mithilfe von Freiwilligen und internationalen Organisationen ist es kürzlich gelungen, etwa 550 Zivilisten aus dem Stahlwerk zu evakuieren. Noch immer ist aber unklar, wie viele weitere Bewohnerinnen und Bewohner unter den Trümmern eingeschlossen sein könnten.
Inzwischen soll klar sein, dass sich noch etwa 600 schwer verwundete Menschen in dem Werk aufhalten, wie ukrainische Medien berichten. 40 von ihnen seien in kritischem Zustand. Offensichtlich können sie aufgrund fehlender Medikamente und Ärzte nicht angemessen versorgt werden.
„Menschen mit Amputationen haben jetzt keine Antibiotika. Sie amputieren jetzt die Gliedmaßen auch bei leichten Verletzungen und ohne Schmerzmittel, sie werden einfach abgeschnitten. Sie haben überhaupt keine Medizin. Sie haben für jeden ein Glas Wasser, aus dem sie alle 5-6 Stunden einen Schluck trinken“, erklärt die Ehefrau eines der Verteidiger von Azovstal auf einer Pressekonferenz.
Ukraine-Krieg: „Wir leiden unter allen Arten von Munition“
Die russische Armee wiederum versucht, die verheerende Lage der Menschen in dem Stahlwerk zu ihrem Vorteil zu nutzen. Man scheint den Widerstand brechen zu wollen – um jeden Preis.
„Wir leiden unter allen Arten von Munition, einschließlich Thermobomben“, sagt der Kommandeur der 12. Brigade der Nationalgarde, Denis Schlega. „Sie kommen morgens mit Artillerie, Panzern, Flugzeugen und versuchen dann, in das Stahlwerk einzudringen. Manchmal kommen sie rein, werden in einigen Gebäuden festgesetzt, aber unsere Verteidiger schlagen sie zurück oder lassen sie gar nicht rein.“ In einigen Teilen der Anlage sei der Feind zwar anzutreffen, aber das sei unbedeutend. „Sie verstehen, dass wir mit aller Kraft durchhalten.“
Und während die russischen Truppen das Niveau der Bedrohung oben halten, versuchen die Ukrainerinnen und Ukrainer – sowohl Regierungsbeamte als auch Zivilisten – ständig, einen Weg zu finden, um die Eingekesselten zu retten.
Ukraine: Plan sieht Evakuierung über das Schwarze Meer vor
Laut der stellvertretenden Ministerpräsidentin der Ukraine, Iryna Vereshchuk, und Präsidenten Wolodymyr Selenskyj ist es aufgrund des Munitionsmangels derzeit unmöglich, Asovstal zu befreien. Moskau sei angeboten worden, schwer verwundete ukrainische Soldaten gegen russische Gefangene einzutauschen. Noch habe es keine Antwort von russischer Seite gegeben.
Bereits im April forderte der Kommandeur der 26. Marinebrigade, Sergej Wolynski, ausländische Staaten in einem Facebook-Post auf, eine Evakuierung durchzuführen. Die Menschen sollten aus der feindlichen Umgebung und in einen von der Ukraine kontrollierten Bereich gebracht werden. Russische Beamte kommentierten dies nicht weiter.
Ein Evakuierungs-Plan sah vor, dass die Menschen auf dem Landweg zum Asowschen Meer gebracht werden, ein türkisches Schiff würde sie von dort nach Istanbul bringen. „Soweit wir wissen, bietet die Türkei seit langem ihre Hilfe und Beteiligung als Drittpartei an“, wird die Frau eines Kämpfers des Regiment Asow bei „The Insider“ zitiert. „Hier ist, wie immer, Putin der einzige Haken. Der lehnte alle Vorschläge ab.“
Das russische Verteidigungsministerium hat den Kämpferinnen und Kämpfern mehrmals ein Ultimatum gestellt, sie sollten sich ergeben.
Für Putin gibt es auch einen ideologischen Grund, das Stahlwerk komplett zu erobern: Seit 2014 verbreitete Russland Nazi-Vorwürfe gegen das Regiment Asow, die Ukraine werde von Nazis regiert, müsse „denazifiert“ werden. Als das Regiment offiziell Teil der Nationalgarde des Innenministeriums der Ukraine wurde, wurde das von Russland als Bestätigung für diese nationalistischen Bestrebungen angesehen.
Ukraine: „Hören nicht auf zu versuchen, alle zu retten“
Die Verhandlungsfortschritte in dem Stahlwerk bleiben aus, trotzdem äußert sich der Präsident Selenskyj fast täglich hierzu. „Wir hören nicht auf zu versuchen, alle unsere Leute aus Mariupol und Asovstal zu retten“, sagt er. „Derzeit laufen sehr schwierige Verhandlungen über die nächste Phase der Evakuierungsmission – die Evakuierung von Schwerverletzten, Sanitätern und einer großen Anzahl von Menschen.“
Eine Frau eines Kämpfers in Mariupol sagt jedoch, dass viele immer weniger an die Macht der Diplomatie glauben würden. „Sie kommen kaum an die Oberfläche, sie gehen nur hinauf, um Nahrung und Wasser zu finden. Die meiste Zeit sitzen sie im Bunker. Die Stimmung ist pessimistisch, weil es kaum Hoffnung auf Rettung gibt. Sie bereiten sich auf die letzte Schlacht vor, weil sie nicht an eine diplomatische Lösung glauben.“
Ukraine: Die Kämpferinnen und Kämpfer von Asovstal als Symbol
Seit Monaten sehen die ukrainischen sozialen Medien wie eine ständige Demonstration aus, um auf die Lage im Stahlwerk aufmerksam zu machen. Die User posten ständig Erklärungen und Ansprachen von Soldatinnen und Soldaten aus Asovstal, drücken ihre Unterstützung aus, rufen täglich dazu auf, eine Petition an die UN zu unterzeichnen. 1 Million Unterschriften wurden bereits gesammelt.
Mit kleinen Schritten versuchen die Menschen so, Großes zu erreichen: Das Leben derer zu retten, die für viele zu einem Symbol der Unbezwingbarkeit geworden sind. Die hoffentlich nicht ermordet werden, um zu unsterblichen Helden zu werden.
Währenddessen hat das russische Verteidigungsministerium seine Zustimmung zum Beginn einer Evakuierung Verwundeter bekannt gegeben. Sie sollen in ein Krankenhaus in der selbst ernannten Volksrepublik Donezk gebracht werden, heißt es aus Regierungskreisen. Die ukrainische Seite hat diese Information bislang nicht bestätigt.