Die Bundeswehr fliegt weiter Menschen aus Afghanistan aus - doch die Lage am Flughafen Kabul bleibt weiter chaotisch. Am Samstag schafften es zeitweise nur sehr wenige in einen der Evakuierungs-Flieger.
Lage am Flughafen spitzt sich zuAfghanistan: Tote im Gedränge – Gefahr eines Anschlags
Kabul. Die Evakuierung von Menschen aus der afghanischen Hauptstadt Kabul durch die Bundeswehr ist inmitten chaotischer Verhältnisse am Flughafen zeitweise ins Stocken geraten. Zwei am Samstag gestartete deutsche Flieger konnten nur sieben beziehungsweise acht Personen nach Usbekistan bringen, wie die Bundeswehr auf Twitter mitteilte. Bei einem späteren Bundeswehr-Transporter gingen dann wieder deutlich mehr Schutzbedürftige an Bord - er flog 205 Menschen aus dem von den militant-islamistischen Taliban eroberten Land aus.
Flughafen Kabul: Tote im Gedränge – Gefahr eines Anschlags
Der Korrespondent des britischen Senders Sky News, Stuart Ramsay, berichtete von vor Ort, am Samstag seien mehrere Menschen im Gedränge ums Leben gekommen.
Der Sender CNN berichtete am Samstag unter Berufung auf ungenannte US-Verteidigungsquellen von der Gefahr eines Anschlags der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) auf den Kabuler Flughafen und dessen Umgebung. Das US-Militär bemühe sich daher, Amerikanern, anderen Ausländern und afghanischen Mitarbeitern der US-Regierung „alternative Routen“ zum Flughafen aufzuzeigen. Die Taliban seien sich der Bemühungen bewusst und stimmten sich mit den US-Vertretern ab. Die Taliban und der regional aktive Zweig des IS sind tief verfeindet und haben in der Vergangenheit gegeneinander gekämpft.
Deutsches Auswärtiges Amt: „Sicherheitslage äußerst gefährlich“
„Wir nehmen jeden zu Schützenden mit, der am Flugzeug ist“, erklärte das Verteidigungsministerium am Vormittag. Große Probleme gab es bei den Zugängen zum Flughafen, an dem sich weiterhin dramatische Szenen abspielen. Ein Augenzeuge berichtete der Deutschen Presse-Agentur, dass dort Tausende Menschen ausharrten. Das Auswärtige Amt twitterte: „Sicherheitslage am Flughafen in Kabul ist weiterhin äußerst gefährlich, Zugang zum Flughafen häufig nicht möglich.“ Später hieß es vom Außenamt, die Tore würden kurzfristig geöffnet und geschlossen. „Situation bleibt gefährlich & volatil.“
US-Generalmajor William Taylor sagte allerdings am Samstag im Pentagon, Eingangstore seien in den vergangenen 24 Stunden nur kurzfristig geschlossen worden, damit „die richtigen Leute“ hätten passieren können. Die US-Streitkräfte hätten in den vorangegangenen 24 Stunden insgesamt rund 3800 Menschen evakuiert. Seit Beginn der Evakuierungsmission in Afghanistan vor einer Woche hätten die US-Militärs insgesamt 17 000 Menschen aus Kabul ausgeflogen. Weiter sagte Taylor: „Es wurde keine Änderung der aktuellen Feindlage in und um den Flughafen gemeldet.“
Afghanistan: Deutsche Botschaft warnt Bürger vor Fahrt zum Flughafen
Die deutsche und die amerikanische Botschaft in Kabul rieten ihren Staatsbürgern von Versuchen ab, den Flughafen zu erreichen. „Derzeit ist es grundsätzlich sicherer, zu Hause oder an einem geschützten Ort zu bleiben“, schrieb die deutsche Botschaft an Landsleute. Die US-Botschaft rief amerikanische Staatsbürger dazu auf, den Flughafen aufgrund möglicher Sicherheitsbedrohungen zu meiden. Die afghanische zivile Luftfahrtbehörde machte deutlich, dass es weiter keine zivilen und kommerziellen Flüge geben werde.
Kirby wollte sich auf Nachfrage nicht zu Sicherheitsbedrohungen äußern. Er verwies aber darauf, dass die Lage rund um den Flughafen nicht stabil sei und sich ständig ändere.
Ein weiterer Augenzeuge sagte der dpa, dass sich Menschen aus allen Gesellschaftsschichten am Flughafen Kabul befänden. Er habe Schauspieler in der Menge gesehen, bekannte Fernsehpersönlichkeiten, Jugendliche, Frauen mit neugeborenen Babys oder Menschen im Rollstuhl. Der US-Sender CNN berichtete unter Berufung auf eine „informierte Quelle“, dass rund 14 000 Menschen am Flughafen seien.
Afghanistan: Bundeswehr verlegt Hubschrauber nach Kabul
Pentagon-Sprecher Kirby sagte, es gebe „eine geringe Anzahl“ von Amerikanern, die auf dem Weg zum Flughafen in den vergangenen Tagen von Taliban drangsaliert oder geschlagen worden seien. Das gelte auch für afghanische Unterstützer des US-Einsatzes. Die meisten Amerikaner würden aber durch die Checkpoints der Taliban gelassen. Die Zuständigen bei den Taliban seien über die Zwischenfälle informiert worden. Die militanten Islamisten haben nach Darstellung der US-Regierung zugesagt, Amerikaner passieren zu lassen.
Die Bundeswehr verlegte zwei Hubschrauber nach Kabul, um mehr Möglichkeiten bei den Evakuierungen zu haben. Die wendigen Helikopter kamen am Samstagmorgen in Kabul an und sind nach Angaben des Verteidigungsministeriums einsatzbereit. Es sei geplant, damit in Kabul „kleinere Gruppen zu Evakuierender im Stadtgebiet aufzunehmen und sicher zum Flughafen zu transportieren“, teilte die Bundeswehr mit. Informationen über konkrete Einsätze gab es zunächst nicht. Die Hubschrauber können nach Angaben von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) nur in Abstimmung mit den Amerikanern und den anderen Partnerstaaten vor Ort eingesetzt werden.
Seit Samstag soll zudem der Vizechef der militant-islamistischen Taliban in Kabul sein, sagten Taliban-Kreise der Deutschen Presse-Agentur. Mullah Abdul Ghani Baradar wolle mit Taliban-Mitgliedern und weiteren Politikern über die Bildung einer neuen Regierung sprechen, hieß es weiter. Baradar wäre der bislang höchstrangige Taliban-Führer, der in Kabul eingetroffen ist. Bilder von ihm in der Stadt gab es allerdings auch am Abend (Ortszeit) noch nicht. Wo sich Taliban-Führer Haibatullah Achundsada und seine zwei weiteren Stellvertreter befinden, ist unklar.
Afghanistan: Kramp-Karrenbauer gibt Fehleinschätzung zu
Kramp-Karrenbauer sicherte zu, dass die Bundeswehr die Evakuierung unter Hochdruck fortsetzen werde. „Die Situation ist schwierig, aber wir werden mit den Möglichkeiten und allem, was sich vor Ort ergibt, weiter dranbleiben, so viele wie möglich herauszuholen“, sagte Kramp-Karrenbauer am Samstag in Berlin. Pentagon-Sprecher Kirby sagte: „Wir wissen, dass wir sowohl gegen die Zeit als auch gegen den Raum kämpfen. Das ist das Rennen, in dem wir uns gerade befinden.“
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bestätigte, dass mit den Taliban gesprochen werde, um die Evakuierungen zu erleichtern. Die Verhandlungen bedeuteten aber keineswegs eine Anerkennung der neuen Regierung, betonte die CDU-Politikerin bei einem Besuch in Spanien. Sie stellte zudem eine Erhöhung der humanitären Hilfe der Europäischen Union in Aussicht. Es werde allerdings keine Mittel für die Taliban geben, wenn diese nicht die Menschenrechte respektieren sollten, sagte von der Leyen bezüglich der Entwicklungsgelder in Höhe von einer Milliarde Euro, die für Afghanistan für die nächsten sieben Jahren vorgesehen sind.
Kramp-Karrenbauer räumte eine massive Fehleinschätzung der Bundesregierung angesichts des Vormarschs der Taliban ein: „Unsere Lageeinschätzung war falsch, unsere Annahmen über die Fähigkeiten und die Bereitschaft zum afghanischen Widerstand gegen die Taliban zu optimistisch“, schrieb Kramp-Karrenbauer in einem der Deutschen Presse-Agentur vorliegenden Brief an Abgeordnete des Bundestags. Zuerst hatte der „Spiegel“ darüber berichtet.
Das Zeitfenster für weitere Evakuierungen aus Kabul wird immer kleiner. Die USA wollen eigentlich zum 31. August den Abzug ihrer Truppen abschließen. Eine Fortführung des Evakuierungseinsatzes ohne die USA gilt als ausgeschlossen. (dpa)