Seit Putins Teilmobilmachung haben hunderttausende Russinnen und Russen ihr Land verlassen. Yuliia Dysa, ukrainische Journalistin bei EXPRESS.de, hat mit zwei von ihnen über ihre Flucht gesprochen.
Endlich raus aus RusslandOlya und Sasha erzählen von Flucht: „Eltern sagen, dass wir eine Schande sind“
von Yuliia Dysa (yd)
Am Tag der russischen Teilmobilmachung haben Olya und Sasha (Namen wurden aus Sicherheitsgründen geändert), die in der Region Moskau leben, gerade ihren 29. Geburtstag gefeiert. Einige Tage zuvor hatten beide noch nicht das Gefühl, dass da etwas auf sie zukommen würde. Sie waren zu beschäftigt mit Feiern oder Arbeiten.
Kurz vor dem 21. September jedoch hatte Olya das Gefühl, dass etwas passieren würde. Als am nächsten Tag die Teilmobilmachung in Russland verkündet wurde, geriet sie in Panik und versuchte sofort, Sasha zu überreden, so schnell wie möglich zu fliehen. Sie wusste, dass er mit der ersten Welle der Mobilmachung eingezogen werden würde.
Flucht nach Teilmobilmachung: Russe Sasha fiel Entscheidung schwer
Sasha arbeitete in Russland als Verkäufer und hatte zuvor dem Militär gedient. Er hat militärische Kenntnisse eines Panzerkommandanten.
Der gebürtige Russe bezeichnet sich selbst als unpolitisch und beschreibt seine Haltung gegenüber dem Krieg in der Ukraine als gleichgültig, abgesehen davon, dass alles immer teurer werde.
„Olya fing schon am Tag der Mobilmachung an, mich zum Handeln zu bewegen, aber ich habe die Idee erst mal verworfen“, sagt er. „Am nächsten Tag hatten wir dann bereits mit unseren Freunden gesprochen, die auch Russland verlassen wollten. Ich brauchte aber noch rund vier Stunden, um endgültig eine Entscheidung zu treffen. Dann kauften wir unsere Fahrkarten nach Saratow, wo unsere Freunde leben.“
Sasha erklärt, dass sie den nächsten Teil der Strecke dann mit ihren Freunden gemeinsam im Auto zurücklegen mussten.
Olya und Sasha: 29 Stunden, um die Grenze zu Kasachstan zu überqueren
Schließlich machten sich Olya und Sasha am Freitag, 23. September 2022, auf den Weg. Zwei Tage, nachdem Putin die Mobilmachung angekündigt hatte. Sie hatten ihr Ziel – vorerst Taschkent, die Hauptstadt Usbekistans, wo Sasha viele Freunde und Bekannte hat – am darauffolgenden Montagabend erreicht.
Sasha: „Wir hatten eine absolut verrückte Route. Als wir uns dafür entschieden haben, Moskau zu verlassen, war es bereits der zweite Tag nach der Ankündigung. Es war unmöglich, Tickets zu kaufen. Wir sind am Freitag um 5 Uhr in Saratow gelandet und bereits um 8 Uhr – mit fünf Personen in einem Auto – weiter zur kasachischen Grenze aufgebrochen. Wir dachten, wir würden sechs bis acht Stunden bis zur Grenze brauchen. Stattdessen haben wir 29 gebraucht.“
Olya erinnert sich, dass sie große Sorgen hatten, nicht rechtzeitig über die Grenze zu kommen, bevor Sasha seine Vorladung erhalten würde. Aber sie hatten Glück: Sasha erfuhr erst am nächsten Tag, als sie bereits in Taschkent angekommen waren, dass er zur Armee einberufen wurde. „Am Dienstag gegen 14 Uhr habe ich einen Brief von der Arbeit bekommen, dass die Vorladung schon auf mich wartet“, erzählt Sasha.
Laut Olya waren die Spannungen nahe der kasachischen Grenze hoch. Die Leute versuchten zu provozieren und verbreiteten viele Gerüchte über Männer, denen die Ausreise aus Russland verweigert wurde. „Das hat die Situation angeheizt“, sagt sie.
Olyas Einschätzung zufolge verhielten sich die russischen Grenzschutzbeamten jedoch angemessen. „Sie haben nur gefragt, wohin wir gehen und wie lange. An der kasachischen Grenze war ein sehr lustiger Typ, der ständig komische Fragen zu unserem Auto gestellt hat“, erzählt sie weiter.
Sasha: „Meine Eltern sagen, dass wir eine Schande für die Familie sind“
Alle ihre Freundinnen und Freunde hätten die Entscheidung, zu fliehen, unterstützt, sagt Sasha. Bei den Eltern sah es jedoch anders aus – sowohl bei ihren eigenen, als auch bei Eltern aus dem Freundeskreis.
„Eltern verurteilen uns sehr, nennen uns Verräterin und Verräter. Meine Eltern bekommen endlose Wutanfälle und sagen, dass wir eine Schande für die Familie sind. Mein Vater sagt, er wartet nur darauf, gerufen zu werden. Das schockiert mich. Wir haben aber auch andere Verwandte, welche, die uns in unserer Entscheidung unterstützen.“
Viele Menschen haben Angst, zu gehen, glaubt Olya. „Es ist ein Massaker an der Grenze. Die Menschen werden vorgeladen und dürfen das Land nicht verlassen. Es gibt nicht so viele solcher Fälle, aber trotzdem ist es sehr erschreckend. Zum Beispiel erreichte der Bruder unseres Freundes die kasachische Grenze, kam nach einer langen Schlange zum Checkpoint, hielt es dort aber nicht aus und beschloss, wieder zurückzukehren.“
Viele Menschen haben vielleicht keinen internationalen Reisepass, vermutet Olya, und glauben, dass es deswegen keinen Sinn mache, Russland ohne einen gültigen Ausweis zu verlassen, da sie später Probleme mit der Ausstellung bekommen würden.
Wenig Hoffnung für Russland: „Proteste werden unterdrückt“
Was die Proteste in Russland betrifft, etwa in der Nordkaukasus-Republik Dagestan und der sibirischen Republik Burjatien, ist Sasha nicht sehr optimistisch:
„Ganz ehrlich, ich glaube nicht, dass es uns in unserer heutigen Situation helfen wird. Proteste werden unterdrückt. Was das Klima in Russland betrifft, würde ich es als sehr polarisierend bezeichnen: Ein Teil unterstützt die spezielle Militäroperation, wie sie in Russland genannt wird, der andere nicht. Und da ist der dritte Teil – bekannt als Schweigen. Leute wie ich, die das nie unterstützt oder dagegen angetreten sind – die müssen entweder abgeschlachtet werden oder das Land verlassen.“
Olya kann nicht anders, als Sasha zuzustimmen. „Ich würde gerne daran glauben, dass dieser Protest etwas verändern wird. Aber ich denke, unser ‚Zar‘ wird es nicht verstehen, bis die ganze Nation Russland verlassen hat.“