Kommentar zum Wahl-BebenArrogant und ignorant: Die (westdeutsche) Politik sollte sich schämen

Olaf Scholz (SPD) steht auf einem Schaufelradbagger im Bergbau-Technik-Park südlich von Leipzig: Er kam nach Thüringen und Sachsen, um Werbung für die SPD. Doch seine Partei erlebte ein Debakel.

Olaf Scholz (SPD) steht auf einem Schaufelradbagger im Bergbau-Technik-Park südlich von Leipzig: Er kam nach Thüringen und Sachsen, um Werbung für die SPD. Doch seine Partei erlebte ein Debakel.

Es ist ein Wahl-Beben in Ostdeutschland: Die Höcke-AfD gewinnt, BSW holt aus dem Stand zweistellige Ergebnisse. Die Ampel-Parteien indes erleben ein Desaster. Erneut wird es jede Menge Lippenbekenntnisse geben – dabei braucht es endlich Verständnis und echten Austausch, findet unser Autor. Ein Kommentar.

von Martin Gätke  (mg)

Es ist ein politisches Debakel mit Ankündigung!

Die AfD wird in Thüringen stärkste Kraft, in Sachsen liefert sie sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit der CDU. Und das Bündnis Sahra Wagenknecht holt aus dem Stand zweistellige Ergebnisse in beiden Bundesländern. Ein großer Verlierer der Wahlen in Ostdeutschland: die SPD. Die kämpft im Osten ums nackte Überleben.

Weil die „Ossis“ halt Nazis sind? Oder tumbe Mitläufer und deshalb populistischen Parteien wie AfD oder BSW zugewendet? Nein, auf keinen Fall. So einfach ist es längst nicht.

Wahl-Beben in Thüringen und Sachsen: Es geht wieder um „Ossis“

Fest steht: Die aktuellen Wahlen in Thüringen und Sachsen bieten wieder einen willkommenen Anlass, über Ostdeutschland und vermeintliche ostdeutsche Befindlichkeiten zu debattieren – vor allem im Westen. Aber mal ehrlich: Ostdeutschland spielte an den restlichen 1460 Tagen davor in Berlin kaum eine Rolle. Fraglich, ob sich das jetzt ändern wird.

Wie sehr Ostdeutschland ignoriert wird, zeigt sich an vielen Beispielen – zuletzt etwa an der geplanten Stationierung von US-Mittelstreckenraketen. In vier kurzen Sätzen verkündeten die USA gemeinsam mit der Bundesregierung, bis 2026 US-Raketen in Deutschland zu stationieren. Eine Debatte darüber? Fehlanzeige.

Dabei sind laut einer Umfrage des „MDR“ in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen zwei Drittel der Befragten gegen die Stationierung, aus Sorge vor einem Wettrüsten und der Gefahr, dass Deutschland zum Angriffsziel wird. Doch Kanzler Scholz tat das, was er nun schon zu oft getan hat: klare Antworten vermeiden.

Wahl-Beben in Thüringen und Sachsen: Sorgen spielten große Rolle

Dabei ist das Thema „Sorge“ genau das, was im Osten bei der Wahlentscheidung eine Rolle spielt – nicht nur die Sorge über innere oder äußere Sicherheit, sondern auch über Migration und Renten. Auch 35 Jahre nach dem Fall der Mauer sind die Unterschiede zwischen Ost und West hier gewaltig.

Nach einem kompletten Arbeitsleben in Vollzeit droht vor allem in Ostdeutschland vielen eine Rente unter 1300 Euro. Bundesweit wäre knapp jeder dritte Vollzeitbeschäftigte betroffen – im Osten fast jeder zweite. Das zeigt jüngst die Regierungsantwort auf eine Frage der – genau – Bundestagsabgeordneten und BSW-Parteigründerin Sahra Wagenknecht.

Es ist nur ein Problem von vielen, die die Menschen in den „neuen“ Bundesländern umtreibt: Denn der Osten schrumpft und wird immer älter. Junge Menschen wandern ab, der Fachkräftemangel wird immer schlimmer.

Die Regierungsparteien sollten sich endlich dringend Gedanken darüber machen, welche ihrer eigenen Unzulänglichkeiten für den AfD- und BSW-Erfolg im Osten verantwortlich sind. Ob das, was sie da an Inhalten anbieten, tatsächlich die Menschen dort erreicht. Kanzler Scholz sackt aktuell desaströse Vertrauenswerte ein – rund zwei Drittel denken, er werde seiner Rolle nicht gerecht. Und die AfD indes wird immer mehr von einer Protest- zur Vertrauenspartei, immer mehr wählen sie aus Überzeugung. Ein Desaster.

„Wir müssen den Menschen mehr zuhören und mehr für unsere Inhalte werben“, sagte SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert kurz nach der 18-Uhr-Prognose. Bleibt zu hoffen, dass diese Einsicht nicht zu spät kommt.