Die Politik sucht dringend nach Wegen, die dramatisch ansteigenden Infektionszahlen wieder unter Kontrolle zu bekommen? In der nächsten Woche tagt eine Krisenrunde von Bund und Ländern – die Zeit drängt. Wie sehr, rechnet uns der RKI-Chef mit gnadenlosen Zahlen vor.
„Vierte Welle trifft uns mit voller Wucht“RKI-Chef trägt uns brutale Corona-Rechnung vor
Berlin. Wegen der immer bedrohlicheren Corona-Ausbreitung in Deutschland rücken zusätzliche Alltagsbeschränkungen in den Blick. Der geschäftsführende Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) forderte vor anstehenden Bund-Länder-Beratungen ein schnelles Gegensteuern. „Wir müssen alles tun, um diese Dynamik zu brechen“, sagte er am Freitag in Berlin. „Sonst wird es für das ganze Land ein bitterer Dezember.“
Das Robert Koch-Institut (RKI) rief alle Bürger wegen dramatisch steigender Infektionszahlen zu weniger Kontakten auf und rät auch zu Einschränkungen besonders bei Großveranstaltungen.
RKI-Präsident Lothar Wieler warnte: „Es ist fünf nach zwölf.“ In etlichen Landkreisen gebe es so viele Corona-Neuinfektionen, dass Kliniken und besonders die Intensivstationen an der Kapazitätsgrenze seien. Dies werde ohne zusätzliche Maßnahmen überall eintreten. „Die vierte Welle trifft uns jetzt mit voller Wucht.“ Die Zahl der gemeldeten Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in sieben Tagen stieg laut RKI auf 263,7 und damit den fünften Tag in Folge auf einen Höchstwert. Die Gesundheitsämter meldeten binnen eines Tages 48.640 neue Fälle.
RKI-Chef Wieler mit brutaler Corona-Rechnung
Dann machte Wieler eine brutale Rechnung auf: Er erklärte, dass von den mehr als 50.000 Neuinfizierten, die am Vortag gemeldet worden waren, im Laufe der Zeit etwa 3000 ins Krankenhaus müssten. 350 würden mindestens auf den Intensivstationen behandelt werden, 200 Personen würden sterben.
Wieler appellierte: Für eine stärkere Eindämmung solle unter anderem bei Großveranstaltungen die Personenzahl reduziert oder ein Verbot erwogen werden.
RKI-Chef Wieler: Superspreader-Events in Innenräumen
Eine konkrete Zahl als Obergrenze nannte er nicht. „Wir wissen, dass insbesondere in Innenräumen sogenannte Superspreader-Events stattfinden.“ Man solle auch erwägen, in besonders belasteten Regionen Bars oder Clubs zu schließen.
Spahn sprach sich dafür aus, für öffentliche Veranstaltungen das Prinzip „2G plus“ einzuführen - also Zugang nur für Geimpfte und Genesene, die zusätzlich aber noch einen aktuellen Test vorweisen müssen. Die bisher von Bund und Ländern vereinbarte 3G-Regel mit Zugang für Geimpfte, Genesene und Getestete werde alleine nicht mehr reichen. Dies werde außerdem zu oft nicht kontrolliert, so dass eigentlich „0G“ gelte. Erste Länder führen 2G-Regeln schon ein. Dies dürfte auch Thema der für Donnerstag vorgesehene Corona-Runde von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) mit den Ministerpräsidenten sein.
Zudem sollen höhere finanzielle Anreize für die Praxen die Impfungen stärker in Schwung bringen, wie Spahn ankündigte. So sollen Ärzte statt der bisherigen 20 Euro ab Dienstag 28 Euro je Impfung erhalten, außerdem auch einen neuen Wochenendzuschlag von 8 Euro. Spahn verwies darauf, dass die Impfungen schon anziehen. In dieser Woche seien mehr als 4,3 Millionen Dosen bestellt worden, was eine Vervierfachung verglichen mit den vergangenen Wochen sei. Neben den Praxen gebe es wieder mehr als 170 Impfstellen und rund 600 mobile Teams.
Spahn: Deutlich mehr Tests erforderlich
Erforderlich seien auch wieder deutlich mehr Tests, sagte Spahn. Wie angekündigt, soll das vor vier Wochen stark eingeschränkte Angebot mit Gratis-Schnelltests durch geschultes Personal samt Bescheinigung wieder für alle kommen. Eine Verordnung dafür solle ab diesem Samstag gelten, so dass Angebote Anfang nächster Woche starten dürften.
In Pflegeheimen sei dringend eine Testpflicht für Personal und Besuche nötig - dies sei aktuell auch sinnvoller als eine Impfpflicht fürs Personal, da sich jetzt Geimpfte ebenfalls testen lassen sollten. Am Arbeitsplatz solle ebenfalls die 3G-Regel eingeführt werden.
Jens Spahn für einheitliches 2G als Zugangsvoraussetzung
Spahn betonte, die Bund-Länder-Runde sei wichtig, um zu gemeinsamem Handeln zu kommen. Aus seiner Sicht hätte es eine solche Abstimmung schon vor drei Wochen gebraucht. In einem gemeinsamen Appell riefen Verbände von Kliniken, Ärzten, Pflegekräften und Fachangestellten dazu auf, das Gesundheitswesen vor Überlastung zu schützen. Als eine Sofortmaßnahme müsse einheitlich 2G als Zutrittsvoraussetzung zu Angeboten des öffentlichen Lebens kommen. Für Aktivitäten mit besonders hohem Infektionsrisiko, vor allem in Brennpunktregionen, sollten zusätzlich zu 2G Schnelltests obligatorisch werden.
Spahn kritisierte Pläne der voraussichtlichen Regierungspartner SPD, FDP und Grüne, in einer neuen Rechtsgrundlage für Maßnahmen künftig weniger mögliche Eindämmungs-Instrumente aufzuführen. „Es braucht mehr, als aktuell möglich gemacht werden soll.“ In den Plänen der Ampel-Partner sind vorerst etwa keine pauschalen Schließungen von Einrichtungen mehr als Möglichkeit für die Länder vorgesehen. Die vom Bundestag festgestellte „epidemische Lage“ als bisherige Grundlage für Maßnahmen soll den Plänen zufolge am 25. November auslaufen.
Die Ampel-Parteien diskutieren auch über eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen. Wahrscheinlich werde man in den nächsten Wochen eine berufsgruppenspezifische Impfpflicht einführen müssen, sagte Grünen-Experte Janosch Dahmen. Er nannte etwa Pflegekräfte, Ärzte, Reinigungs- und Küchenpersonal in Kliniken oder Pflegeheimen. SPD-Fachpolitikerin Sabine Dittmar sagte, man müsse sehr sorgfältig abwägen und verwies auf mögliche Abwanderung von Pflegekräften.
Impfpflicht für alle? Spahn bleibt gegen diese Maßnahme
Spahn wandte sich erneut gegen eine allgemeine Corona-Impfpflicht und verwies auf Schwierigkeiten bei der Umsetzbarkeit und Kontrollen von Menschen, die sich dann weigerten. „Zerren wir dann Sahra Wagenknecht mit der Landespolizei zur Impfstelle?“ Die Linke-Politikerin hatte unter anderem kürzlich in der ARD-Sendung „Anne Will“ Vorbehalte gegen Impfungen deutlich gemacht.
Zum Krisenmanagement wird auch die Bundeswehr zunehmend herangezogen. „Wir sehen einen ansteigenden Bedarf“, sagte eine Sprecherin des Verteidigungsministeriums. Derzeit seien 650 Soldatinnen und Soldaten dafür im Einsatz, davon 570 in der Kontaktnachverfolgung, 48 in Krankenhäusern und 17 in der Impfkampagne. (dpa/mg)