In einem Bus wird ein Kontrolleur von einem jungen Mann erschossen. Der Täter kann fliehen, wird aber dann selbst getötet. War er ein Einzeltäter, ein Amokläufer oder gar Terrorist? Der „Tatort: Unklare Lage“, den das Erste nun wiederholt, weckt Erinnerungen an den Münchner Anschlag von 2016.
„Tatort“München-Krimi weckt Erinnerungen an den Anschlag von 2016
Der Wahnsinn beginnt in einem städtischen Bus – und mit einem Filmriss: Alles dunkel. Aber dann, nach diesem Moment des Schreckens, erfüllen die Handys ihren Zweck. Einer ruft um Hilfe, ein Toter liegt im Bus, ein Kontrolleur wurde erschossen.
Der Täter, ein Kapuzenträger mit Rucksack, flieht. In der Zentrale wollen sie die Beschreibung des Täters haben, vor Ort treffen unter Blaulicht und Sirenen bereits die ersten Uniformierten ein, dicht gefolgt von den Sondereinsatzkommandos im Harnisch.
„Tatort“ in München: Gedanken an das Attentat von 2016
Schnarrende Befehle allerorten: „Hände hoch, langsam raus!“ Für die Businsassen ist das eine beängstigende, entwürdigende Situation, die sich im packenden Münchner „Tatort: Unklare Lage“ (2020) immer weiter zuspitzt. Das Erste wiederholt den für den Grimmepreis nominierten Krimi, dessen ungewisse Stimmung frappant an den Anschlag in der bayerischen Hauptstadt 2016 erinnerte, nun zum Sonntagabend.
Wo bleiben Batic und Leitmayr (Miroslav Nemec, Udo Wachtveitl)? Mit größter Altherrenruhe scheinen die Silberrücken das hektische Treiben beobachten zu wollen. Aber eine Ahnung davon, dass sie in etwas Schreckliches hineingezogen werden, haben sie schon.
Ein Hype der Medien, die wissen wollen, was passiert, oder auch schon alles zu wissen scheinen, bahnt sich an, ein stummer Streit aber auch der polizeilichen Kompetenzen. Die Kommissare, viel grauer noch und Gesichts-gegerbter als sonst vor zumeist schwarz-dunklem Hintergrund gefilmt, geraten mitten hinein in diesen Strudel. Womit haben sie es hier zu tun, das wird bis zuletzt die Frage bleiben: mit einem Amokläufer, der weiteres Unheil verrichten wird, mit einem Durchgeknallten - oder gar mit einem veritablen Terroristen?
Natürlich kommen bei den Zuschauerinnen und Zuschauern alsbald Gedanken an das Attentat im Olympia-Einkaufszentrum vor sechs Jahren auf. Die gleiche Ungewissheit, vor allem die Frage: Gibt es einen oder gar mehrere Täter? Auf die Zeugen aus dem Bus ist wenig Verlass.
Als der Geflüchtete von Polizeischützen in einem leerstehenden Bau erschossen wird, findet man in seinem Rucksack Munitionsmagazine und ein Funkgerät, das auf einen Verbindungsmann zu verweisen scheint. Genährt werden Thesen wie diese immer wieder vom höchst besonnenen Jungkommissar Kalli Hammermann (Ferdinand Hofer), den sie in den Führungsstab abkommandiert haben und der nun dort vor lauter Videowänden und Computern sitzt, die immer Neues zutage fördern dürfen.
Es ist ein Wettrennen gegen die Zeit, gegen die eigene Unwissenheit. Ist der hundertfache Aufwand gerechtfertigt, die Totalsperrung der Innenstadt? Kann man sich die Medien – etwa mit dem Fahndungsbild des Täters – zunutze machen, oder fördert man damit nur die allgemeine Hysterie? Den sozialen Plattformen, den sensationslüsternen Twitter-Beiträgen, wird hier übrigens nicht zuvorderst das Augenmerk geschenkt, schon eher gilt es einer blindlings aufgeregten Übergriffigkeit. Wozu sollten all die SEKs zur Stelle sein?, fragt einer der Passanten, wenn es nicht triftige Gründe dafür gäbe? So breitet sich leichthin der Terror vor dem Terror aus.
Die Verselbstständigung des Apparats, die manifeste Gewalt der Ordnungshüter ist es, die sich beim Zuschauen ins Gedächtnis gräbt. Die Optik des Films, die beunruhigend zoomende, schwenkende Steadycam trägt zu diesem Eindruck neben einem bedrohlich mahlenden Begleitscore bei: Es ist eine erstaunliche Körperlichkeit und zugleich die optische Klarheit, die diesen Tatort nach vorne treibt. Immer wieder taucht die Kamera von Florian Emmerich in Tiefgaragen und U-Bahnschächte ein, Lichtquellen zaubern raffinierte Spiegelungen auf die Gesichtshelme der Marsmenschen vom SEK.
„Tatort“ in München: Wie umgehen mit dem Terror?
Auf die Erkundung der privaten Hintergründe, die psychischen und familiären Ursachen wird hier eher wenig Wert gelegt. Und doch sind auch sie in wenigen Sekunden plötzlich da: im erstarrten Gesicht einer betroffenen Mutter, im Wutausbruch eines Vaters, dem die monoton fordernden Fragen der Kommissare auf den Zeiger gehen, mögen sie mit noch so sonorer Wärme vorgetragen sein.
Am Ende, wenn der letzte Schuss gefallen ist, bleibt vieles offen: Haben sich die Recherchen der Kommissare doch noch ausbezahlt, oder sind sie Getriebene ihrer selbst geworden? Leiden sie gar unter der Last ihrer jahrzehntelangen Erfahrung, die ihnen in diesen neuen Verhältnissen nicht mehr helfen kann? - Die Stärke dieses „Tatort“-Krimis von Pia Strietmann (Regie) und Holger Joos (Drehbuch) liegt nicht zuletzt darin, dass er sich vom realen Vorbild des Attentats von 2016 löst und dennoch die Fragen nach dem angemessenen Umgang mit dem Terror zu stellen versteht.
Die nächste aktuelle Episode des Münchner Krimis ist zugleich ein eindrückliches rundes Jubiläum für Batic und Leitmayr: Im „Tatort: Flash“, inszeniert von Andreas Kleinert, lösen die altgedienten Kommissare bereits ihren 90. Fall. Das Erste zeigt die Folge am Sonntag, 19. Juni, 20.15 Uhr. (tsch)