Mit einer Wiederholung werden „Tatort“-Fans am Sonntagabend im Ersten beglückt: Julia Grosz (Franziska Weisz) und Thorsten Falke (Wotan Wilke Möhring) ermitteln in der Hamburger linksautonomen Szene. Eine alte Freundin von Grosz ist dort verschwunden.
„Tatort“ SchattenlebenNach hinterhältigen Anschlägen: FLINTA-Szene im Visier von Grosz und Falke
In Hamburg geschehen Anschläge, hinter denen das „linke Spektrum“ vermutet wird. Zuletzt hat es die Frau eines Polizisten erwischt. Die Mutter eines wenige Monate alten Babys liegt nach einem Brandanschlag im Koma. Der Ermittlungsleiter klärt Julia Grosz (Franziska Weisz) und Thorsten Falke (Wotan Wilke Möhring) auf: „Nach aktuellem Stand liegt der Fokus der Bobachtungen auf der FLINTA-Szene. Also Frauen, Lesben, Inter.“
Ihm ins Wort fallend ergänzt Julia Grosz leicht genervt: „nicht binär, transgender. Ist uns ein Begriff.“ Ja, im NDR-„Tatort: Schattenleben“ geht es auch um Diversität – und um neue, freie Lebensmodelle, die sich bisweilen mit Vehemenz gegen eine zwanghaft bürgerliche Ordnung stemmen. Im Notfall eben auch mit Gewalt.
„Tatort“: „Schattenleben“ traut sich eine Menge – Plot und Erzählweise dennoch konventionell
In den benannten Szene ermittelte auch Ela Erol (Elisabeth Hofmann). Sie ist eine enge Freundin von Julia Grosz, man kennt sich von der Polizeischule. Jetzt ist die verdeckte Ermittlerin, die zuletzt in einer FLINTA-WG lebte, verschwunden. Grosz wirft sich einen alten Hoody über, bindet das Haar zum Pferdeschwanz und lässt die Schminke weg. Schon wird sie zur Bewerberin auf einen vorübergehenden Schlafplatz in der Wohngemeinschaft.
Kann die Polizistin ihre Tarnung durchhalten, obwohl Geschehnisse aus der Vergangenheit sie schwer mitzunehmen scheinen? Und schafft es die Ermittlerin, gegenüber den misstrauischen Bewohnerinnen Maike (Jana Julia Roth) und Nana (Gina Haller), die offenbar eine Beziehung mit Ela hatte, ihre Rolle glaubhaft weiterzuspielen?
Der zweite „Tatort“ der jungen Münchener Regisseurin Mia Spengler für das Team Falke und Grosz nach der schönen Rotlicht-Ballade „Die goldene Zeit“ (Februar 2020) ist ein Krimi, der sich eine Menge traut. Nicht unbedingt, was die Filmkunst betrifft, denn „Schattenleben“ ist in Sachen Plot und Erzählweise recht konventionell geraten. Heikel ist hingegen der Stich ins gesellschaftliche „Wespennest“, in welches das Drehbuch der 32-jährigen Autorin Lena Fakler („Am Ende der Worte“) eindringt. Eine Szene, die um die Anerkennung und Inklusion neuer Geschlechterrollen ringt, ins politisch radikale Lager zu schreiben – und sei es auch nur als Hypothese für einen Krimi-Plot – wird in der Bewegung sicher nicht gut ankommen.
Queer-feministische Wohngemeinschaft als „Tatort“-Spielraum
Dass die Macherinnen des „Tatorts“ selbst einem tradiert konservativen Weltbild das Wort reden, ist nicht zu vermuten. Im Gegenteil. Mia Spengler, Jahrgang 1986, bestand bei ihrem neuen NDR-„Tatort“ auf einem „Inclusion Rider“. Durch diesen Vertragspassus verpflichtet man sich, benachteiligte Menschen wie Frauen, People of Color, LGBTQ+, körperlich wie geistig Eingeschränkte und andere nach einem bestimmten Prozentsatz an der Produktion zu beteiligen.
Zum ersten Mal ist dieser Passus, für den die US-Schauspielerin Frances McDormand in ihrer Oscar-Rede im Jahr 2018 publikumswirksam warb, in einer „Tatort“-Produktion zum Tragen gekommen. „Da es um eine queer-feministische Wohngemeinschaft geht, hat es thematisch schon sehr gut gepasst“, sagte Mia Spengler in einem Interview mit der Filmförderung Hamburg / Schleswig-Holstein auf die Frage, warum gerade dieses Projekt in Sachen „Inclusion Rider“ den Anfang im deutschen Fernsehen macht.
Auch ein interessanter Fakt: Weil die genannten Gruppen einen deutlich erschwerten Zugang zu klassischen Filmjobs haben, war es mitunter eine Herausforderung, überhaupt Bewerberinnen und Bewerber für die entsprechenden Gewerke zu finden. „Bestimmten Bevölkerungsgruppen wurde über Jahrzehnte die Tür zugehalten – das fängt bereits bei Praktikumsplätzen an“, sagt Regisseurin Spengler im selben Interview. Selbst Frauen, so Spengler, seien in bestimmten Film-Gewerken nur schwer zu finden.
Der in Sachen Diversität lobenswert ambitionierte „Tatort“ hat jedoch noch ein ganz anderes Problem: Die Erzählung ist alles andere als glaubwürdig. Die beschriebene FLINTA-Szene, zugegebenermaßen für Außenstehende eher schwer einzufangen, wirkt in ihrer Darstellung aufgesetzt und wenig authentisch. Erst recht dann, wenn eine Polizistin wie Julia Grosz, die nach dem Falke-Alleingang „Tyrannenmord“ vom März 2022 nun auch ihr Quasi-Solostück erhält, eine „autonome“ Schwindlerin spielt, die echten FLINTA-Frauen, logischerweise dargestellt von ganz normalen Schauspielerinnen, von ihrer Rolle überzeugen muss.
Zuschauerinnen und Zuschauer werden wohl weder der einen noch der anderen Fraktion Glauben schenken. Was bleibt also vom „Tatort: Schattenleben“? Der neue Fall von Falke und Grosz ist ein produktionstechnisch vorbildliches Film-Projekt, das jedoch in Sachen Filmkunst erstaunlich bieder wirkt – und als Krimi-Drama bestenfalls durchschnittlich geraten ist. (tsch)