Symptome nicht erkanntHerzkranke Christina: „Männer-Medizin hätte mich fast umgebracht“

Christina Pingel schrieb das Buch "Diagnose Frau"

Christina Pingels Beispiel zeigt, wie wichtig Gender-Medizin ist. Die Autorin schrieb das Buch „Diagnose Frau“.

Ihre Mutter starb früh an einem Herzleiden. Christina Pingel war kurz davor – auch, weil die Medizin noch immer stark an Männern ausgerichtet ist.

von Andrea Kahlmeier  (ak)

Jeder fünfte Arzt gibt laut einer aktuellen Axa-Umfrage zu, dass er bei der Verschreibung von Medikamenten nie geschlechtsabhängig entscheidet, 73 Prozent tun es „manchmal“. Eine Tatsache, die kaum jemanden so schockieren dürfte wie Christina Pingel (38).

Ihre Mutter erlitt in jungen Jahren einen Herzstillstand und war danach körperlich und geistig auf dem Stand eines Kleinkindes. Als auch Christinas Herz mit Mitte 20 aus dem Takt geriet, wurde sie immer noch nicht ernst genommen.

Christina Pingel: Als Kind findet sie ihre Mama leblos am Boden

Dies ist die schockierende Geschichte einer Frau, die viel „Herzleid“ erfahren musste. Im wahrsten Sinne des Wortes. „Meine Mutter wies ihre behandelnden Ärzte immer wieder auf ihre Symptome hin.“ Nach der Geburt der Tochter erleidet die Mittzwanzigerin eine Herzbeutelentzündung.

In den nächsten neun Jahren verstärken sich die Symptome deutlich. Doch weder vom Kardiologen noch ihrem Hausarzt wird der notwendige Herzschrittmacher jemals in Erwägung gezogen. Sie sei doch jung. Vielleicht etwas hysterisch. Typisch Frau halt.

Doch plötzlich, an einem heißen Sommertag 1995, liegt eben diese Frau mit gerade mal 33 Jahren in ihrem Büro leblos auf dem Boden. Erst nach mehreren Wiederbelebungsversuchen beginnt das Herz wieder zu schlagen. Sie verbringt den Rest ihres Lebens im Pflegeheim, erkennt niemanden mehr. Nicht ihren Mann und auch nicht ihre kleine Tochter Christina.

Das Kind ist traumatisiert, kann den Schmerz über all das Geschehene nicht mehr ertragen. Weigert sich als Teenie, diese leere Hülle im Pflegeheim zu besuchen. 2018 stirbt die Mutter. „Meine Mutter ist eine von vielen Frauen, denen über Jahre nicht richtig zugehört wurde und denen ihre körperlich ernstzunehmenden Beschwerden aberkannt wurden“, empört sich Christina Pingel in „Diagnose: Frau“ (Piper, 17 Euro).

Doch nicht nur ihre Mutter, auch Christina selbst würde vermutlich nicht mehr leben, wenn sie nicht solch ein Kämpferherz gezeigt hätte. Nicht nur ihre Gedanken kreisen nach dem Tod der Mutter ständig um ihr eigenes Herz, sie spürt, dass es nicht rund läuft.

Gut 20 Jahre nach dem Herzstillstand ihrer Mutter nimmt sie trotz der Vorgeschichte keiner ernst. Immer wieder lässt die junge Frau sich bei ihrem Hausarzt durchchecken, wendet sich an zig Facharztpraxen und weist sich schließlich selbst in die Psychiatrie ein. Diagnostiziert werden eine posttraumatische Belastungsstörung, Depressionen, Angst- und Panikstörungen. Ausgelöst durch die Geschichte ihres Lebens.

Aber was ist mit dem Herz? Christina liest es in den Augen der männlichen Mediziner: hysterische Zicke. Schenk deinem Körper weniger Beachtung! Dann endlich gerät sie an eine Kardiologin, die prompt eine sehr auffällige und bereits fortgeschrittene Undichtigkeit an der Mitralklappe diagnostiziert – und zur sofortigen OP am Herzen rät.

Ende gut, alles gut? Von wegen! Nicht einmal 24 Stunden vor der OP wird Christina wieder nach Hause geschickt, weil sie im Vorgespräch die Frage gestellt hatte, ob es ein Problem sein könnte, dass sie gerade ihre Periode habe. Und ob! Durch die starke Blutverdünnung und gleichzeitige Monatsblutung kann es zu einem enormen Blutverlust während der OP kommen. Aber welcher Mann denkt bei der OP-Planung schon an den Monatszyklus einer Frau?

Wenn man der Medizin einen bestimmten Artikel zuordnen wolle, müsste es nicht DIE Medizin, sondern DER Medizin heißen, schreibt Dr. Werner Bartens in seinem Bestseller „Gesundheitsrisiko weiblich“. Keine Frage: Auf dem Gebiet Gender-Medizin tut sich was, sagt auch Christina Pingel, es gibt spezielle Herzzentren, endlich Studien, in denen nicht nur 1,70 Meter große Durchschnittsmänner als Probanden genommen werden – aber da ist noch viel Luft nach oben.