Surfer-PaarWarum wir mit unserem behinderten Kind erst recht auf Weltreise gehen
Berlin – Einen großen Teil seines Lebens ist Fabian Sixtus Körner auf der Jagd nach Abenteuern. Vor nichts graut ihm mehr als vor der Routine, dem Alltag, dem Sesshaft-Werden. Mit Ende zwanzig beschließt er, um die Welt zu reisen und für Kost und Logis zu arbeiten. Daraus entsteht der Bestseller „Journeyman“, seine Leidenschaft verbindet er mit dem Beruf: Als Autor, Architekt, Designer und Fotograf ist er jahrelang auf allen besiedelten Kontinenten der Erde unterwegs. Auch seine Freundin Nico führt als Expertin für Menschenrechte zum Schutz von Frauen und Kindern in Kriegsgebieten ein Nomadenleben, arbeitet in verschiedenen Krisenregionen der Welt.
Dann beschließen die beiden ein Kind zu bekommen. Eine große Vorfreude macht sich bei den leidenschaftlichen Backpackern und Surfern breit. Aber als werdende Eltern werden sie auch mit gut gemeinten Ratschlägen und Warnungen überschüttet, wie Körner in seinem neuen Buch „Mit anderen Augen“ berichtet: „Ein Kind braucht Stabilität und einen festen Tagesrhythmus. […] Die Sache mit dem Reisen geht dann nicht mehr einfach so.“ Es ist dieser Kommentar, der Florian Sixtus Körner, der mit seiner hochschwangeren Freundin gerade zurück in Berlin ist, nicht loslässt.
Yanti ist „das größte aller Abenteuer“
Er stürzt sich in „Mikroabenteuer“, verbringt eine Nacht auf einer Bank im Görlitzer Park oder im Gummiboot auf dem Britzer Zweigkanal. Doch die Kurztrips erfüllen ihn nicht. Ein Familienleben auf Reisen, so empfindet er es, können sie nicht übertreffen. Und seine Freundin macht ihm Mut: „Du weißt, wie süchtig ich danach bin, fremde Länder zu erkunden und neue Wellen zu entdecken. Am liebsten mit Dir. Ja natürlich, ein Kind braucht Stabilität. Aber das bedeutet nicht, dass wir deswegen für immer hierbleiben müssen.“
Sie sind sich sicher: Auch nach der Geburt ihres Kindes werden sie Weltenbummler bleiben, wenn auch mit einem festen Anlaufpunkt in ihrer Mietwohnung in Berlin. Und dann widerfährt den beiden Abenteurern „das größte aller Abenteuer“: Ihre Tochter Yanti wird geboren, und schon kurz nach der Geburt wird bei ihr das Down-Syndrom diagnostiziert.
„Warum meine Tochter?“
Plötzlich gerät ihr Leben, wie es bis jetzt war, ihre ewige Reise in Gefahr. Die Gedanken des frischgebackenen Papas sind düster: „Ich habe eine behinderte Tochter. […] Ein weiterer Pflegefall auf den Listen der Versicherungen, hilfsbedürftig für den Rest ihres und wahrscheinlich auch meines Lebens. Unabhängigkeit, Reisen, Freiheit, damit ist es vorbei. Warum meine Tochter? Warum ich? Womit haben wir als Eltern und Familie das verdient?“
Auch das Umfeld vermittelt dem Paar zunächst keine Zuversicht. Mit Reaktionen von „Das tut mir so leid. Ich denke ganz fest an Euch“ und „Das wünscht man ja niemandem“ können die beiden wenig anfangen. Doch am dritten Tag nach der Diagnose ändert sich etwas: „Es war dieses Jetzt-erst-recht-Gefühl, das ich von meinen Reisen kannte“, schreibt der 36-Jährige. „Das Abenteuer hatte längst begonnen, ob ich wollte oder nicht. Also würde ich es annehmen. Ich würde nicht nur dafür kämpfen, dass Yanti am Leben blieb, sondern auch dafür, dass sie ihren ganz eigenen Weg gehen, akzeptiert und geliebt würde.“
„Yanti ist ein Glück für uns, kein Unglück“
Und nicht zuletzt seine kleine Tochter sorgt dafür, dass er nicht länger mit seinem Schicksal hadert: „Ein Lächeln hier, ein Jauchzer da, Yantis kleine Hand an meiner Nase – zum ersten Mal bewusst gesteuert. Wieso sollte dieses Leben keine Daseinsberechtigung haben? Wie könnten wir uns nicht an diesem Leben erfreuen? Yanti ist ein Glück für uns, kein Unglück.“
Und was ist mit dem Reisen, das für den Autor und seine Freundin, doch so eine Art Lebenselixier darstellt? Sie müssen es für Yanti nicht aufgeben, im Gegenteil: Die Ärzte haben keine Bedenken, vielmehr gehen sie davon aus, dass das Meer und das Klima an den bevorzugten Reisezielen der beiden sich positiv auf Yanti auswirken wird, die zu Beginn immer wieder Probleme mit der Lunge hat. Entgegen des in Deutschland vorherrschenden Vorurteils, dass ein behindertes Kind die Eltern in erster Linie einschränke, verhalte es sich eher andersherum, wundert sich der Autor: „Anstatt eine Zwangsjacke, wird Yanti unsere Freiheit sein.“
Die erste Reise führt die kleine Familie in die Karibik
Die erste gemeinsame Reise führt die Drei in die Karibik: In der Dominkanischen Republik entwickelt sich das kleine Mädchen hervorragend: „Yanti atmet schon nach zwei Wochen in der Meeresluft viel freier, fängt an, befreit von schweren Klamotten, sich in alle Richtungen zu drehen und vergnügt zu quietschen.“
Und da ist noch etwas, was das junge Familienglück beflügelt: In der Karibik verhalten sich die Menschen gegenüber Yanti anders als in Deutschland. Sie bewundern „die Niedliche“, „das besondere Mädchen“, wie sie Yanti liebevoll nennen. „Hier habe ich zum ersten Mal das Gefühl, dass man sich wahrhaftig für uns freut“, schreibt Körner, der „das mitleidige Starren und Abwenden des Blicks“ der Passanten in Deutschland kaum ertragen konnte.
„Ihre Geschichte ist wie eine Reise in ein fernes Land“
„Manchmal habe ich das Gefühl, dass anderen gar nicht so bewusst ist, was für ein Glück uns mit Yanti widerfahren ist“, sagt seine Freundin Nico einmal. „Sie denken Yanti, sei eine Last und wir bemitleidenswert.“ Dabei würden sie doch jeden Tag zum Lachen gebracht und könnten sogar jede Nacht durchschlafen, was viele frischgebackene Eltern schließlich nicht von sich behaupten können.
Yanti ist ein entspanntes Mädchen, ein Schelm und ein Sommerkind, das Papageienschreie, Hängematten und das Meeresrauschen liebt, wie Körner schreibt. Sie habe ihre Eltern von ihren eigenen Vorurteilen und Beklemmungen befreit. „Ihre Geschichte ist wie eine Reise in ein fernes Land, aus dem wir verändert zurückkehren: mutiger, offener, voller Staunen.“
Yantis Reise, sie hat gerade erst begonnen
Zurück in Deutschland haben sie versucht, dies auch ihrem Umfeld klar zu machen, worauf sich die Reaktionen der anderen veränderten: „Das deprimierende Mitleid, das uns nach Yantis Geburt entgegengebracht wurde – es ist verschwunden und einer unverstellten Freude uns gewichen.“
Yantis erste Reise in die Karibik ist nicht ihre letzte geblieben. Schon kurz darauf sind ihre Eltern mit ihr im Bully die spanische und portugiesische Atlantikküste entlanggefahren. Bereits vor ihrem ersten Geburtstag hat sie mehr erlebt als viele Menschen in ihrem ganzen Leben. Yantis Reise, sie hat gerade erst begonnen.
(rer)
Zum Weiterlesen: Fabian Sixtus Körner: Mit anderen Augen. Wie ich durch meine Tochter lernte, die Welt neu zu sehen. Ullstein Extra, 223 Seiten, 15 Euro.