Enge badeanzug-ähnliche Glitzeranzüge haben im Turnen der Frauen schon eine lange Tradition. Doch einigen ist das seit Langem viel zu freizügig. Bei Olympia in Tokio hat nun das deutsche Team für eine Revolution gesorgt. Unsere Turnerinnen schlüpften erstmals in Ganzkörperanzüge – und schoben eine weltweite Diskussion an.
Turn-RevolutionDeutsche Ganzkörperanzüge sorgen für Olympia-Wirbel
Tokio. Grätsche, Spagat, Spreiz-Sprünge – welche Frau würde diese Übungen gerne im hautengen Badeanzug vor einem Millionen-Publikum vorführen? Die deutschen Turnerinnen haben jedenfalls keine Lust mehr darauf und schlüpfen beim Turnen in Ganzkörperanzüge. Die sind zwar auch hauteng, aber sie fühlen sich darin wesentlich wohler. Elisabeth Seitz (27), Sarah Voss (21), Kim Bui (32) und Pauline Schäfer (24) sorgten unter den 98 Starterinnen der Qualifikation mit ihren Anzügen für Olympia-Wirbel.
Fans diskutieren über Ganzkörperanzüge der deutschen Turnerinnen
Auf Twitter laufen die Diskussionen heiß. Ein Fan schreibt: „Ich finde so einen Ganzkörperanzug viel schicker als diese knappen Dinger, bei denen man immer Sorge hat, den Turnerinnen bei solchen Übungen in den Schritt zu schauen. Die Ganzkörperanzüge sind einfach cool!“ Andere wollen jetzt kein Turnen mehr gucken. Oder fragen: „Wen stören die engen Anzüge.“ Zudem sei es für die Punktrichter wichtig, dass die Athletinnen hautenge Anzüge zu tragen, um alle Bewegungen genau bewerten zu können. Das geht bei den Ganzkörperanzügen aber auch ganz gut. Und viele Fans bedanken sich beim deutschen Team für das Zeichen gegen Sexismus im Sport.
„Wir wollen uns toll fühlen, wir wollen allen zeigen, dass wir toll aussehen“, sagte die Kölnerin Voss in Tokio. „Man bewegt sich sehr viel und fühlt sich nicht immer hundert Prozent wohl“, erläuterte Voss weiter. Mit den Ganzkörperanzüge sei das nun anders. Die deutsche Turntruppe will sich aber nicht als Speerspitze im Kampf gegen Sexismus im Sport sehen: „Es geht darum, sich wohl zu fühlen. Wir wollen zeigen, dass jede Frau, jeder selbst entscheiden soll, was er anzieht“, sagte die Stuttgarterin Seitz.
International sorgte der Auftritt der deutschen Damen bei Olympia in Tokio für Furore. „Deutschlands Turnerinnen haben sich gegen die Sexualisierung des Sports ausgesprochen, indem sie bei den Olympischen Spielen in Tokio Einteiler trugen statt der traditionellen Bikini-Trikots“, schrieb die bekannte US-Zeitschrift „People“. Anerkennung gab es via Twitter auch von der deutschen Sportler-Vereinigung „Athleten Deutschland“: „Wir sind stolz auf die deutschen Turnerinnen und den Deutscher Turner-Bund, die in Tokio mit ihren Unitards ein starkes Zeichen gegen Sexismus setzen!“ Athletinnen und Athleten müssten selbst wählen können, was sie tragen, solange es ihnen keinen Vorteil verschaffe.
Bei Andreas Toba (30), dem EM-Zweiten am Reck, kommt der Vorstoß der deutschen Turnerinnen gut an. „Ich finde, dass sie eine Message vermitteln, die den Sport einfach attraktiver macht. Zum Schluss geht es darum, dass wir turnen und uns wohl dabei fühlen“, sagte der Hannoveraner. Wenn diese Botschaft dabei helfe, dass Frauen sich beim Turnen wohlfühlten und nicht beklemmt turnen müssten, finde er das richtig. „Ich unterstütze das voll und ganz“, betonte er.
Wird sich der Ganzkörperanzug im Turnen durchsetzen?
Die deutschen Frauen waren schon im April bei der EM mit den sogenannten Unitards gestartet. Ob es nach Olympia nun einen Durchbruch für die neuen Turnanzüge gibt, scheint fraglich. Ein führender Trikothertsteller teilte mit, dass die Nachfrage noch sehr gering sei. Elisabeth Seitz glaubt, dass einige Nationen schlicht keine Zeit hatten: „Nach den Europameisterschaften war die Zeit zu kurz für andere, einen langen Anzug zu entwerfen“, meinte die Olympia-Vierte von 2016 am Stufenbarren.
Sarah Voss hofft: „Wir haben erstmal den Anstoß gegeben. Wir freuen uns, wenn andere die Innovation aufgreifen und wir einen Trend gesetzt haben“, sagte sie. Ob Seitz und Kim Bui am Donnerstag im Mehrkampf-Finale ebenfalls in Ganzkörperanzügen antreten oder auf das übliche Outfit zurückgreifen, ist noch offen. „Es ist eine Entscheidung von Tag zu Tag. Es kommt darauf an, wie wir uns fühlen und was wir wollen. Wir entscheiden am Wettkampftag, was wir anziehen“, sagte Seitz. (ubo/dpa)