Plötzlich haben sich ihre Leben von Grund auf verändert, von einem Moment auf den anderen. Danya, Natasha, Anya und ihre Kinder müssen weg, weg von ihrer Heimat in Mykolajiw, raus aus der Ukraine. In Köln finden sie eine neue, vorübergehende Bleibe, im Haus von Lida. EXPRESS.de trifft Menschen, die offen ihre Geschichten erzählen – über ihre Angst, und – natürlich – auch über ihre Hoffnung.
Ukrainische Geflüchtete in Köln „Ich schaue meine Kinder an und denke: Sie haben sogar die Kinder angefasst“
von Yuliia Dysa (yd)
In Bocklemünd treffe ich sie, die Heldinnen und Helden dieser Geschichte. Ein paar Minuten, nachdem ich das Haus betreten habe, rennt die fünfjährige Miroslawa auf mich zu. Trotz der Nächte in den Kellern und des langen, beschwerlichen Weges von Mykolajiw in der südlichen Ukraine nach Köln hat sie ihre kindliche Offenheit und Spontaneität nicht verloren.
Das Mädchen klettert in meine Arme und drückt mich fest an sich, während ihre Mutter davon erzählt, wie sie ihr während der Artillerieangriffe Brei zu essen gab.
„Wir hatten gerade mit dem Essen begonnen, als sie mit der Bombardierung begannen. Wir versteckten uns alle in unserem kleinen Nest im Haus. Ich saß da und merkte, dass der Brei abkühlte und die Kinder Hunger hatten. Ich kroch auf allen Vieren in die Küche, nahm einen Teller vom Tisch, kroch zurück und fütterte beide im Liegen mit einem Löffel. Als sie immer noch hungrig waren, kroch ich zum zweiten Mal.“
Ukraine-Krieg: „Ich hatte einen Traum: Das Militär kam ins Haus“
Das Haus in Bocklemünd, in dem Lida ursprünglich ein Zimmer gemietet hatte (sie zog bereits 2007 nach Deutschland), hat in den letzten sechs Monaten mehr als eine ukrainische Familie beherbergt. Lida holte ihre Mutter aus Mykolajiw heraus und half vielen ihrer Freundinnen und Freunde, die Stadt zu verlassen, in der sich die Situation immer weiter verschlechterte.
Das sind die Geschichten von Anya, die zusammen ihren Kindern Miroslawa und Misha aus der Ukraine nach Deutschland geflohen ist – sowie von dem 17-jährigen Danya und Natasha.
„Am 23. Februar träume ich, dass ich in der Ukraine bin, wir schlafen in einem Raum mit meiner Mutter, und sie sagt plötzlich: Jemand läuft im Haus herum“, erinnert sich Lida. „Ich antworte, das sei unmöglich, schalte aber das gedämpfte Licht ein: Ein Soldat kommt herein, lächelt frech und zündet seine Zigarette an. Ich wache auf – zu diesem Zeitpunkt habe ich eine Nachricht auf meinem Telefon bekommen, dass wir in Mykolajiw beschossen werden.“
Lidas Mutter, die seit Kriegsbeginn mit ihrem krebskranken Großvater allein in der Ukraine lebte, habe sich die ganze Zeit geweigert, über den Krieg zu sprechen, fügte Lida hinzu. Und sie weigere sich immer noch.
Krieg in der Ukraine: Anya und Natasha erinnern sich an Tag 1
Am Vorabend des 24. Februar konnten viele Ukrainerinnen und Ukrainer nicht glauben, dass der Krieg beginnen würde. Sie konnten es nicht einmal, als er bereits begonnen hatte. Sowohl Anya als auch Natasha erinnern sich, dass sie bis zuletzt vorhatten, morgens zur Arbeit zu gehen.
„Wir sind aufgewacht: Explosionen, Hubschrauber fliegen herum. Was ist das, ist das der Krieg? Das kann nicht sein“, erinnert sich Natasha. „Wir schalten den Fernseher ein: Das Kriegsrecht wurde verhängt, niemand geht zur Arbeit. Aber dann merke ich, dass schon jemand gekommen ist, um mich zu fahren – schließlich bin ich doch zur Arbeit gegangen. Ich ging in die Manufaktur und im nächsten Moment hörte ich eine Explosion. Ich habe sofort ein Taxi nach Hause gerufen.“
Krieg in der Ukraine: „Nein, das ist nur ein Feuerwerk“, denkt Danya
Am 24. Februar wachte Danya um 6 Uhr morgens auf. Zuerst hörte er von seiner Großmutter, dass der Krieg ausgebrochen ist. Er antwortete ohne zu zögern: „Nein, das ist nur ein Feuerwerk“.
Anya und ihre Familie zogen in einen Vorort von Mykolajiw und blieben dort zwei Wochen lang. Sie lebte in dem schrecklichen Glauben, dass die russischen Truppen als Nächstes diese Stadt einnehmen würden. Deshalb bereitete sie sich auf das Schlimmste vor: Sie kaufte Kerzen und Streichhölzer – und das aus gutem Grund. Zuerst wurde der Strom abgestellt, dann das Gas.
Anya: „Großmütter, die den Krieg sahen, fragten ‚warum‘“
„Jeden Tag kauften wir Brote, ich schnitt sie, und solange wir Gas hatten, trockneten wir sie zu Crackern“, erklärt Anya. „Außerdem fragten mich die Großmütter, die den Krieg als Kinder miterlebt hatten: ‚Warum, wozu? Glaubst du, dass alles so schlimm sein wird?‘“
Wenn es kein Gas gab, habe Anya ständig gedacht: Also, es gibt genug Brennholz für eine weitere Woche, na ja, für zwei, wenn du dich zurückhältst. Nun, hier ist ein Baum, hier ist ein Zaun und eine Scheune - wir können uns etwas einfallen lassen.
Als sie in Deutschland angekommen ist, sagt Anya, dauerte diese „Berechnungen des potenziellen Brennmaterials“ noch einige Zeit an. Sie habe sich einmal bei dem Gedanken ertappt, dass sie sich die Bäume im Park nur aus diesem Grund ansah.
Natasha erklärt, sie sei ständig von Mykolajiw aus in die Vororte und zurück gezogen, sie haben ebenfalls sofort damit begonnen, Vorräte vorzubereiten. „Ich hatte es irgendwie im Unterbewusstsein. Und ich habe mit dem Gedanken gespielt, dass ich auch etwas für meine Eltern im Dorf brauche. Es war meine Mutter, die mir beigebracht hat, dass immer Vorräte vorhanden sein sollten. Und in dieser Situation habe ich gehamstert wie verrückt.“
„Wenigstens werden sie mich nicht anrühren, dann schaue ich meine Kinder an“
Anya erzählt von einem schrecklichen Moment, der ihr in Erinnerung geblieben ist. „Ich bin einmal mit dunklen Augenringen durch die Stadt gelaufen, mein Kopf war schmutzig, mein Trainingsanzug war auch schmutzig – er war ziemlich ramponiert. Und ich erinnere mich, dass ich einmal in den Spiegel schaute und dachte: Ich bin so hässlich. Naja, wenn die russischen Truppen in die Stadt kommen, werden sie mich wenigstens nicht anfassen. Und dann schaue ich meine Kinder an und denke, dass sie in Irpen (in der Region Kyjiw, Anm. d. Redaktion) sogar die Kinder angefasst haben“.
Natascha fügt dann fast im Flüsterton hinzu, dass ihre Mutter immer Tabletten zur Hand hatte: „Für den Fall, dass, Gott bewahre, Soldaten durchbrechen, damit Großmutter, ich und sie selbst, du weißt schon …“
Bereits in der zweiten Kriegswoche, so erinnert sich Anya weiter, lernten sie, Granateinschläge von anderen lauten Geräuschen zu unterscheiden. „Man gewöhnt sich daran und hört irgendwann auf, darauf zu reagieren. Auf der einen Seite ist das normal, auf der anderen Seite aber auch …“, sagt sie und kann ihren Satz nicht recht beenden.
Danya: „Und dann bin ich unter Beschuss gekommen“
Danya erinnert sich, dass seine Mutter schon in den ersten Kriegstagen gesagt hat, er würde die Stadt verlassen müssen. Er selbst wollte das natürlich nicht, beschloss aber zu lügen und in einem Gespräch zuzustimmen. Etwa eineinhalb Wochen lang wurde das Thema nicht weiter angesprochen. Und dann geriet er eines Tages unter Beschuss.
„Wir sind mit einem Mädchen spazieren gegangen als wir fünf Blitze am Himmel in Richtung Cherson sehen. Ich merke, dass wir schneller nach Hause kommen müssen, wir fangen an zu rennen“, erinnert sich Danya.
„In diesem Moment höre ich, wie in der Nähe etwas explodiert. Ich lege sie auf den Boden, meinen Körper schützend vor sie. Ich konnte an nichts mehr denken. Wir rannten – beide zu unseren Häusern. Es explodiert wieder etwas, ich setze mich hin, ich erkenne das Muster der Explosionen, erkenne, dass ich noch anderthalb Minuten habe. Dann renne ich, es explodiert wieder etwas, ich springe reflexartig unter dem Zaun her. Aber ich habe es geschafft, nach Hause zu kommen.“
Danya sagt, er habe keine Angst vor Explosionen gehabt, sondern es irgendwie geschafft, einen kühlen Kopf zu bewahren. Zwei Tage später saß er bereits im Bus, sagt er. „Ich verstand, dass meine Mutter so ruhiger sein würde.“
„Ich drehte den Kopf und sah das Schild: Vorsicht vor Minen“
Nicht nur Danya, auch Anya und Natasha wollten nicht gehen – bis zum Schluss. „Ich wurde einfach rausgeschmissen: von meinen Eltern und meinem Mann“, meint Natasha etwas ironisch.
Anya sagt, ihr sei klar gewesen, dass sie gehen musste, als das Gas abgestellt wurde. Aber ihr Mann sei derjenige gewesen, der sie schließlich überzeugte: Er selbst blieb in Mykolajiw – wie fast alle Männer aus Natashas Familie – und dient in der Armee. „Ich kann mich nicht konzentrieren und arbeiten, ich denke ständig an dich und die Kinder“, erinnert sich Anya an seine Worte.
Sie wusste, dass sie gehen musste: Zusammen mit ihren Eltern und ihren Kindern fuhren sie zunächst nach Iwano-Frankiwsk (im Westen der Ukraine) zu Verwandten. „Es gab einen Moment, in dem Papa das Auto auf dem Feld angehalten hat, um zu überlegen, wie man den Weg am besten abkürzen könnte. Ich drehte den Kopf und sah: An einem Baum hing ein Zettel mit der Aufschrift ‚Vorsicht Minen‘. Dorthin würden wir abbiegen.“
Natascha fuhr schließlich mit einem Evakuierungs-Bus des Roten Kreuzes nach Lemberg, Danya machte sich mit einer Gruppe von Bekannten über Odesa auf den Weg nach Moldawien: zunächst mit dem Auto, dann zu Fuß. „Wir sind 5 Kilometer zur Grenze gelaufen. Es gab eine riesige Schlange: Als sie sich bewegte, rannten mein Freund und ich nach vorne, ließen unsere Taschen stehen und warteten, bis jemand aus unserer Gruppe kam. Dann rannten wir zurück, nahmen kleine Kinder auf die Schultern, die mit uns reisten, und liefen weiter – zum nächsten Platz in der Schlange. Wieder und wieder.“
Es herrschte Chaos an der Grenze – Danya und sein Freund schafften es aber auf diese Art, den anderen einen Platz in der Schlange freizuhalten.
Anya erinnert sich: „Ich war schockiert“
Anya erinnert sich an die ersten Momente nach ihrer Ankunft in Europa: Sie wurde das Gefühl der Dissonanz nicht los, das alle ukrainischen Geflüchteten hatten. „Ich stand unter Schock: Wie können Menschen so friedlich gehen? Menschen sterben dort in der Ukraine, schreckliche Dinge geschehen. Wie können sie so ruhig gehen, wenn dort alles so schrecklich ist?“
In Deutschland sei es ihr anfangs schwergefallen, das Haus zu verlassen, sagt sie – sei es nur geschäftlich oder um Zeit mit den Kindern auf dem Spielplatz zu verbringen. Psychologisch schwierig. Noch schwieriger sei es, mit jemandem zu kommunizieren.
Für Danya hingegen war das Gegenteil der Fall: Die Flucht habe ihm geholfen, mit seinen Gefühlen fertig zu werden.
Heute hilft Danya bei einem örtlichen Fahrradservice, wo sie alte Fahrräder aussortieren und aus den alten Teilen neue zusammenbauen. Ukrainische Geflüchtete können dort ein Fahrrad für 20 Euro kaufen: 10 Euro für das Fahrrad selbst, 10 Euro für das Schloss.
„Ich bin froh, dass ich mit ihnen arbeiten darf, außerdem werde ich von ihnen etwas lernen. Es sind Deutsche, Großväter im Alter von 60 bis 70 Jahren“, sagt Danya. „Sie haben den Wunsch, den Ukrainerinnen und Ukrainern zu helfen. Viele Menschen verbiegen sich jetzt, um zu helfen. Und sie helfen, wo sie nur können. Sie wissen, wie man Fahrräder baut, und sie bauen sie.“
Anya klagt über deutsche Bürokratie: „Eine Art Teufelskreis“
Witze über die deutsche Bürokratie hören auf, witzig zu sein, sobald man ihr selbst begegnet. Bei allem Verständnis für die Situation in den deutschen Behörden stoßen die Ukrainerinnen und Ukrainer auch an ihre Grenzen, wenn es um Zugeständnisse geht.
Anya, die ohne einen internationalen Pass nach Deutschland kam, brauchte ganze sechs Anläufe, um ein Bankkonto zu eröffnen und Sozialhilfe zu erhalten. Verschiedene Behörden schickten sie hin und her, um ein fehlendes Stück Papier zu bekommen. „Ich hatte das Gefühl, mich in einem Teufelskreis zu befinden“, erinnert sie sich.
Der Rest scherzt ebenfalls über die deutsche Bürokratie. Sie sagen, dass sie längst nach Hause – in die Ukraine – zurückkehren können, wenn sie irgendwann mal alle notwendigen Dokumente haben.
Nach Hause. Zurückkehren. Bei diesen Worten macht plötzlich niemand mehr einen Scherz. Zu ernst ist das Thema. Und es ist unmöglich, Anya in diesem Punkt zu widersprechen: „Am ersten Tag, an dem der Sieg verkündet wird, schnappe ich mir meine Kinder und fahre nach Hause: ‚Vielen Dank, es war sehr schön, euch hier zu ‚besuchen‘, aber mein Zuhause, das ist dort.‘“