Ein achtjähriges Kind soll in Attendorn im Sauerland jahrelang eingesperrt worden sein. Von der eigenen Mutter.
Drama in NRWKind (8) jahrelang in Haus eingesperrt – Jugendamt hatte anonyme Hinweise
Fassungslosigkeit in Attendorn (NRW): Eine Mutter soll dort ihre inzwischen achtjährige Tochter über Jahre eingesperrt haben. Das Kind wurde jetzt durch Behörden befreit.
Am Samstag (5. November 2022) berichtete der „Sauerlandkurier“, dass alles darauf hindeute, dass das Mädchen fast sein ganzes Leben in einem Haus im Kreis Olpe im düslichen Sauerland verbrachte.
NRW: Mädchen (8) durfte jahrelang Haus nicht verlassen – es gab anonyme Hinweise beim Jugendamt
Noch brisanter macht den Fall, dass es bereits länger anonyme Hinweise gegeben haben soll. Vor zwei Jahren und vor einem Jahr etwa seien diese beim Jugendamt eingegangen, sagte Fachbereichsleiter Michael Färber am Montag auf dpa-Anfrage. „Wir sind dem sofort nachgegangen, aber es gab keine stichhaltigen Hinweise oder konkreten Anhaltspunkte, dass sich das Mädchen dort aufhielt.“
Man habe daher keine rechtliche Möglichkeit gehabt, das Haus zu betreten – das sei auch die damalige Einschätzung der Polizei gewesen, schilderte Färber. „Wir haben keine Anzeichen gefunden, die bestätigt hätten, dass das Kind und seine Mutter bei den Großeltern in Attendorn leben.“
Auch „Sauerlandkurier“ und WDR hatten über Hinweise ans Jugendamt berichtet. Gegen die Mutter des Kindes und die Großeltern ermittelt die Staatsanwaltschaft in Siegen wegen Freiheitsberaubung und Misshandlung von Schutzbefohlenen.
Sie geht davon aus, dass sie dem Mädchen fast sieben Jahre lang nicht ermöglicht hatten, „am Leben teilzunehmen“ – nicht an Kita, Schule oder am Spiel mit anderen Kindern. Die Ermittlungen laufen, sagte Oberstaatsanwalt Patrick Baron von Grotthuss. Die Hintergründe seien noch unklar. Mutter und Großeltern schweigen bisher, Zeugen wurden weiter befragt.
Mädchen eingesperrt: Mutter wollte Kontakt zu leiblichem Vater verhindern
Der Hintergrund: Die Mutter hatte sich im Sommer 2015 aus Attendorn abgemeldet und als neuen Wohnort für sie und ihre Tochter eine Adresse in Italien angegeben, wie Färber, Fachbereichsleiter im Kreis Olpe, sagte. Offenbar habe die Mutter vermeiden wollen, dass ihre Tochter Umgang mit ihrem – getrennt von den beiden lebenden – Vater hat.
Dieser wandte sich Färber zufolge ans Familiengericht, das 2016 das Sorgerecht für beide Elternteile bekräftigte. Sogar beim Gerichtsentscheid sei als Wohnort der Mutter und Tochter eine italienische Adresse angegeben gewesen, unterstrich Färber. Dem Oberstaatsanwalt zufolge ist die Motivlage noch nicht bekannt.
Es gebe keine Hinweise auf einen aktuellen Sorgerechtsstreit nach den Vorkommnissen von 2015/16. Ob es danach unter den Partnern internen Streit um das Sorgerecht gab, „kann ich nicht ausschließen, aber auch nicht bestätigen“. Erst als sich im Juni 2022 ein Ehepaar – mit Namen – ans Jugendamt wandte und angab, sie hätten das Mädchen gesehen, sei Bewegung in den erschütternden Fall gekommen, berichtete Färber.
Man habe mithilfe von Bundesjustizministerium und italienischen Behörden herausgefunden, dass Mutter und Tochter nie in Italien gelebt hatten. Bei einer Hausdurchsuchung am 23. September in Attendorn stieß man dort auf das Kind. Hinweise auf eine körperliche Misshandlung oder Unterernährung gab es nicht.
Das Kind befindet sich laut Jugendamt seit diesem Tag bei einer Pflegefamilie. Man biete jegliche Unterstützung an, auch bei einer psychologischen Aufarbeitung. Für die Achtjährige ist nun nach Einschätzung des Kinderschutzbundes eine behutsame Begleitung ganz zentral.
Nach sieben Jahren Freiheitsentzug: Mädchen muss seelisch stabilisiert werden
„Für das Kind steht jetzt die Welt Kopf. Es wird sich fühlen wie auf einem anderen Planeten“, gab Nicole Vergin vom Kinderschutzbund NRW zu Bedenken. Grundbedürfnisse des Mädchens seien offenbar ebenso missachtet worden wie grundlegende Kinderrechte auf Bildung, Spielen oder soziale Kontakte.
Das werde Auswirkungen auf die mentale, psychische oder auch motorische Entwicklung des Kindes haben – auch wenn eine genaue Diagnose aus der Ferne nicht möglich sei. Es gehe nicht darum, dass das Kind nun rasch Defizite aufhole, sondern es müsse zuallererst seelisch stabilisiert werden, betonte Sozialpädagogin Sabine Müller-Kolodziej vom Kinderschutzbund.
Auch wenn die drei Erwachsenen rechtlich zur Verantwortung gezogen werden müssten, solle dem Kind ein begleiteter Umgang mit ihnen weiter ermöglicht werden, um es nicht zu entwurzeln.
Das Kind habe nie ein anderes Leben oder andere Menschen kennengelernt. Es habe auch nicht gelernt, sich selbst zu behaupten und abzugrenzen. Alle Stellen unter Einbeziehung von Kinderpsychologen müssten nun eng zusammenarbeiten.
Laut den Ermittlungen durfte das Kind das Haus nicht verlassen, seitdem es mindestens anderthalb Jahre alt gewesen ist. Die Achtjährige war nach ihrer Befreiung zunächst in die Siegener Kinderklinik gebracht worden, wo sie angegeben habe, dass sie noch nie einen Wald gesehen, noch nie auf einer Wiese gewesen oder in einem Auto gefahren sei. (dpa,iri)