In ihrer ersten Doku stellt sich Anne Will einer unbequemen Frage: Wie verändert die neue Weltlage Deutschland - und uns? Sie traf den russischen Botschafter Sergej J. Netschajew.
„Bis jetzt?“Anne Will trifft russischen Botschafter – Antwort lässt TV-Moderatorin schlucken

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Für ihre ARD-Doku „Angst vor Krieg - Die Deutschen in der Zeitenwende“ traf Anne Will den russischen Botschafter in Berlin.
„Ich beiße nicht - heute“, mit diesen Worten begrüßt der russische Botschafter Sergej J. Netschajew Anne Will in der Botschaft in Berlin. Er wirkt entspannt, trägt eine quadratische Brille und eine rotgepunktete Krawatte. Während er sie durch das Gebäude führt, erhascht man Blicke auf massive Kronleuchter, riesige Buntglasfenster - und auf die 16 Wappen der früheren Sowjetrepubliken. In Netschajews Büro steht kein Familienfoto, sondern ein Porträt von Putin.
„Ich glaube nicht, dass die Deutschen Angst haben sollen“, sagt der Botschafter später im Gespräch mit Will, beide sitzen an einem langen Tisch. „Sie glauben?“, fragt Will herausfordernd. Netschajew geht darauf kaum ein. Stattdessen behauptet er: Die Menschen in Deutschland seien „angesteckt von einer militaristischen Psychose“, einer „Hysterie“.
56 Prozent der Deutschen haben große Sorge vor einem Krieg in Europa
„Wofür produzieren Sie Waffen?“, hakt Will weiter nach. „Wir müssen auf Sicherheitsrisikos reagieren“, antwortet der Botschafter kurz angebunden, es folgt eine Pause. „Sind Sie unser Feind?“, fragt Will schließlich. „Wir befinden uns bis jetzt nicht im Kriegszustand mit ...“, Will unterbricht: „bis jetzt?“ Eine richtige Antwort darauf bleibt aus.
Ein Grund zur Sorge? Das findet über die Hälfte der Deutschen. Für den Film hat die langjährige ARD-Talkerin Will eine repräsentative Umfrage machen lassen: 56 Prozent der deutschen Bürgerinnen und Bürger haben große Sorge vor einem Krieg in Europa.
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Videoausschnitte werden eingeblendet, von JD Vance auf der Münchner Sicherheitskonferenz, der von einer möglichen Abkehr von Europa spricht, von dem katastrophalen Treffen zwischen Wolodymyr Selenskyj und Donald Trump im Weißen Haus, von Friedrich Merz und Ursula von der Leyen, wie beide von Aufrüstung sprechen.
Deutschland wappnet sich gegen den Ernstfall. Doch wo würden wir überhaupt Schutz finden? Laut dem BKK gibt es aktuell 579 öffentliche Bunker - Platz für 0,5 Prozent der Bevölkerung. Einsatz- und funktionsfähig sind davon null. Finnland und die Schweiz hingegen haben mehr Bunker als Einwohner - hat Deutschland geschlafen?
Wohl gerade deshalb boomt das Geschäft mit personalisierten Schutzbunkern, dem „Geschäft mit der Angst“, wie Will es in ihrem ARD-Film bezeichnet. Einen Anbieter besucht sie in Hamburg, Barmbek: Mario Piejde und sein Geschäftspartner aus Dubai können sich vor Aufträgen nicht retten. In deren Büro stehen Schränke mit Vorräten und Kerzen, an den Wänden hängen Deutschlandflaggen und Gasmasken.
„Wenn jemand auf mich oder andere Leute schießt, werde ich nicht zugucken“
Das Einsteigermodell - das eher einer winzigen Stehbox gleich - fängt bei 15.000 Euro an. Richtige Bunkerräume kosten schnell mal 100.000 Euro, die kommen dann aber auch mit einer 900 Kilogramm schweren Wand, die sich wie ein Rollo herunterfahren lässt und vor Druckwellen schützt. „Da braucht man keine Angst davor zu haben, drinnen zerfetzt zu werden“, sagt Piejdes Kollege. Die Hälfte der Bunker sind schon verkauft. „Wer kommt denn zu ihnen?“, fragt Will. „Der komplette Querschnitt“, erwidert Piejde. Viele wollten anonym bleiben, aus Angst, dass jemand davon erfährt - und im Ernstfall dort Schutz sucht. „So ist halt der Mensch“, sagt Piejde.

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Anne Will besucht die Militärsiedlung Rukla in Litauen. Einer, der Orte, an dem die Bundeswehr die Brigade Litauen aufbauen wird.
Weiter geht es zu Theo und Tim nach Kiel. Über die Jugendoffensive der Bundeswehr und die YouTube-Serie „Die Rekruten“ sind die beiden auf den Beruf aufmerksam geworden - gerade absolvieren sie ein sogenanntes „Schnuppercamp“ auf dem Marinestützpunkt. Warum sie das machen? „Wenn man in diesem Land lebt, sollte man ihm etwas zurückgeben“, ist Tim der Meinung, „wenn jemand auf mich oder andere Leute schießt, werde ich nicht zugucken“, sagt Theo. Der Job bei der Bundeswehr sei „das Richtige“ für ihn.
Später trifft die Moderatorin noch Theos Mutter, Ute Schubert. „Sind sie in Ordnung mit der Berufswahl ihres Sohnes?“, fragt Will. „Das ist seine Entscheidung. Natürlich habe ich Angst, aber ich versuche mich nicht durch Ängste leiten zu lassen“, entgegnet Schubert.
Deutschlands Munition reicht für zwei Tage
Cut zum Interview mit Boris Pistorius. „Wir müssen uns wappnen und die Fähigkeit besitzen, einen möglichen militärischen Angriff gemeinsam mit NATO-Partnern abzuwenden“, sagt er ruhig. Ein Angriff Putins halte er für möglich, dafür müsse man sich vorbereiten. „Über Jahrzehnte wurde bei der Bundeswehr gespart, keine Ersatzteile nachbestellt, es gibt zu wenig Munition - die würde aktuell genau für zwei Tage reichen“, sagt Will. „Das werde ich mit Sicherheit nicht kommentieren“, antwortet Pistorius, sichtlich angegriffen. Dabei verpflichtet die Nato alle Bündnispartner, Munition für 30 Jahre vorrätig zu halten. „Wir arbeiten daran“, versichert der Verteidigungsminister.
Noch eine Zahl wird eingeblendet: Nur 29 Prozent der Deutschen wären bereit, ihr Land mit Waffe zu verteidigen. Einer der niedrigsten Werte weltweit. An der Ostsee in Boltenhagen besucht Will das Ehepaar Lotte Salingré und Thomas Stanger - sie haben vergangenes Jahr fünf Millionen Euro an das BSW überwiesen. „Meine Kriegsangst ist, dass die Provokation von Europa gegenüber Russland so groß wird, dass sie es doch tun“, sagt Salingré, vor ihr dampft eine Tasse Tee: „Dabei haben die Russen vielleicht genauso Angst.“ Auf Wills Frage, wer die Schuld am Krieg trägt, sagt sie: „Das ist schwer zu beantworten, es gibt immer zwei Seiten.“
Schließlich fährt Will nach Litauen - der „wunde Punkt der Nato“, eingekesselt von Belarus und dem russischen Kaliningrad, wie sie es beschreibt. Am Grenzübergang, zwischen den Brustkorb-hohen Panzersperren, facetimt Will mit Dovilė Šakalienė, der Verteidigungsministerin Litauens. Sie hat klare Worte: „Wir werden jede Verbindungsmöglichkeit in die Luft sprengen. Es ist nicht wichtig, an welcher Stelle das Boot getroffen wird - es wird untergehen.“
Aktien von Rheinmetall mehr als verdoppelt
Zwei Stunden von Litauen entfernt befindet sich eine Militärsiedlung. Hier sollen insgesamt 5000 deutsche Soldaten hinterlegt werden - Will spricht von einem „Kernprojekt der Zeitenwende“. Die 200 Soldatinnen und Soldaten, die bereits dort stationiert sind, wohnen in Containern. Ein Leopard-2-Kampfpanzer rollt ins Bild. 105 Stück hat die Bundesrepublik bereits nachbestellt. Kosten: 2,9 Milliarden Euro.
Die Aktien von Rheinmetall haben sich mehr als verdoppelt seit Anfang des Jahres, heißt es. Will, die eine dicke Daunenjacke trägt, möchte das 64-Tonnen-Exemplar genauer betrachten. Soldat Rafael hilft ihr, auf den Panzer zu klettern. „Wie hat sich das erste Mal angefühlt, Munition damit abzufeuern?“, fragt sie oben angekommen. „Das ist wie an Silvester, laut, spaßig, es qualmt viel“, sagt Rafael und lacht.
Doch alle 4800 Soldatinnen und Soldaten werden erst in zwei Jahren vor Ort und voll einsatzfähig sein. „Der Zeitplan wirkt wie aus einer anderen Zeit“, findet Will. Als die Kamera aus ist, stecken Soldatinnen und Soldaten dem Rechercheteam, dass das Material gerade so knapp sei, dass das, was dort geliefert wird, woanders Löcher reißt. Und: Die Berechnungen beruhen darauf, dass man die USA fest an der Seite hat.
Schnitt zur Sicherheitskonferenz in München, JD Vance hat eben seine Rede gehalten. Röttgen wird eingeblendet: „Wir sind so verwöhnt von den letzten Jahrzehnten, dass Krieg keine Option ist.“ Wir dürften nicht weiter schlafwandeln, sonst würden wir vor dem Abgrund stehen. Will beendet ihre Doku mit einer Frage, auf die sie keine so genaue Antwort gefunden hat: „Wie sichern wir Frieden?“
„Angst vor Krieg. Die Deutschen in der Zeitenwende“ läuft am Montag, 7. April, 20.15 Uhr, im Ersten und in der ARD-Mediathek. (tsch)