Der russische Angriffskrieg in der Ukraine trieb mehr als eine Million Menschen in die Flucht. Im Interview mit EXPRESS.de schildern drei ukrainische Schutzsuchende ihre Erinnerungen an den Tag, der ihr Leben veränderte.
Ein Jahr Ukraine-KriegGeflüchtete erinnern sich: „Papa, hol mich ab – ab jetzt beginnt der Krieg“
von Maria Isaak (mi)
Am 24. Februar 2022 überfiel Russland sein Nachbarland, die Ukraine. Ein Tag, der das Leben vieler Menschen veränderte. Russland brachte einen flächendeckenden Krieg nach Europa zurück. Drei schutzsuchende Menschen aus der Ukraine erzählen EXPRESS.de ihre Geschichte.
Irina lebt seit 2004 in Bergisch Gladbach. Die inzwischen 70-Jährige kam mit ihren zwei Kindern nach Deutschland. In der Ukraine hat sie keine Familie mehr, ihre Eltern sind vor 20 Jahren gestorben. Seit April 2022 unterstützt sie die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Begegnungscafé als Übersetzerin. Die meisten der Schutzsuchenden können Ukrainisch oder Russisch sprechen.
„Am 24. Februar 2022 hat sich unser Leben, für immer, verändert“
Die Stimmung ist angespannt bei Ali (50), Yuliya (42) und Natalia (41). Alle drei sind vor knapp einem Jahr aus der Ukraine geflohen. Seit März 2022 haben sie in Bergisch Gladbach eine vorübergehende Heimat gefunden. Sie alle wollen wieder zurück in ihre Heimat. An den 24. Februar 2022 erinnern sich Ali, Yuliya und Natalia sehr genau.
Ali war mit seiner ältesten Tochter in Charkiw in der Ost-Ukraine. Die 24-Jährige wollte an einer dortigen Universität ihr Studium beginnen. Am Morgen des 24. Februars klingelte Alis Handy. Zu dem Zeitpunkt lag er noch im Bett eines Hotelzimmers in der Stadt. Seine Tochter rief an und schrie verzweifelt: „Papa, hol mich ab – ab jetzt beginnt der Krieg“. Ali holte seine Tochter ab und fuhr in das schwer-umkämpfte Luhansk, seine Heimatstadt.
Luhansk gehört zu den Städten in der Region Donbas, die als eines der ersten Ziele der russischen Armee angegriffen wurden. Dort warteten seine Frau und die anderen drei Kinder sehnsüchtig auf ihn. Ali erzählt: „Viele Bomben fielen vom Himmel. Ich habe nur Schüsse und Schreie gehört. Wir hatten alle Angst.“
Die sechsköpfige Familie erwischte einen der letzten und völlig überfüllten Züge im Donezker Bahnhof. Die Fahrt ging erst an die polnische Grenze, nach Lwiw (Lemberg). Dort nahm die Familie einen Bus, der sie über mehrere Zwischenstationen nach insgesamt zehn Tagen Reise nach Bergisch Gladbach brachte. Wichtig zu wissen: In der Ukraine dürfen nur Männer mit mindestens drei Kindern oder einer Behinderung das Land verlassen.
Yuliya und Natalia flüchteten zusammen. Die beiden Frauen sind Freundinnen und lebten in Kyjiw. Natalia wurde am 24. Februar 2022 von Bomben geweckt. Sofort schaltete sie den Fernseher an und sah, dass ihr Heimatland sich mitten im Krieg befand. Schnell sammelte sie die wichtigsten Dokumente und weckte ihre Tochter (14). Sie mussten los.
Ähnlich ging es Yuliya. Die 42 Jahre alte Zahnärztin aus Kyjiw schlief noch, als ihr Handy am Morgen des 24. Februars nicht aufhörte zu klingeln. Es war ihre Freundin, die brüllend fragte: „Warum schläfst du noch? Es ist Krieg!“. Yuliya wollte es nicht glauben und schaute aus dem Fenster. Sie sah Rauch und Trümmerfelder. Noch heute kann sie nicht glauben, dass in ihrem geliebten Heimatland Krieg herrscht.Nehmen Sie hier an unserer Umfrage teil:
Yuliyas Ehemann fuhr sie, ihren gemeinsamen Sohn Damian (4) und Natalia zusammen mit ihrer Tochter an die polnische Grenze. Danach kehrte der Mann zurück nach Kyjiw, er musste an die Kriegsfront. Von der Grenze nahmen die zwei Mütter mit ihren Kindern einen Zug, der sie über eine Stadt in Polen, Berlin, Bonn und Köln nach Bergisch Gladbach brachte. Eine über zweiwöchige Reise. Beide Frauen kämpfen mit den Tränen, als sie über die Flucht berichten. „Es war sehr schwer ohne Mann. Viel Stress“, sagt Natalia. Dann hersscht Stille.
In Bergisch Gladbach haben Ali, Natalia und Yuliya erstmal eine neue Heimat gefunden. Sie sind dankbar. Im Begegnungscafé wird ihnen geholfen, sie haben warmes Essen und ihre Kinder können die Schule besuchen. Aber sie vermissen die Ukraine. Die Ehemänner kämpfen an der Front. Schon allein dieser Gedanke lässt sie keine Nacht ruhig schlafen.
Wenn der Krieg vorbei ist, wollen alle zurück in die Heimat. Auch wenn sie dann einen „Friedhof“ anstatt ihrer Liebsten wiederfinden, übersetzt Irina. Sie glauben, dass ihr Präsident Wolodymyr Selenskyj eine gute Figur macht und sich nicht „versteckt wie der russische Präsident“. Auf die Frage, was sie sich von der Regierung in Deutschland wünschen, antworten alle: „Waffen. Wir können den Krieg nur mit Waffen gewinnen“.