ZDF-DokuAnna flüchtete aus der Ukraine: „Es ist besser für uns, in Deutschland zu bleiben“

Die 36-jährige Zweifach-Mutter Anna hat sich in Deutschland ein neues Leben aufgebaut. (Bild: ZDF/Laura Mentgen)

Die 36-jährige Zweifach-Mutter Anna hat sich in Deutschland ein neues Leben aufgebaut. (Bild: ZDF/Laura Mentgen)

Wie ist es, alles hinter sich zu lassen, um dem Krieg zu entkommen? In der ZDF-Reihe „37°Leben“ sprechen zwei Frauen über ihre Flucht aus der Ukraine – und über das Leben, das sie sich seither in Deutschland aufgebaut haben.

Anna lebt seit fast drei Jahren in Deutschland. „Wir sind sofort gekommen, am 3. März“, erinnert sich die Ukrainerin an die Tage nach dem Kriegsausbruch in ihrem Heimatland im Februar 2022. „Ich habe alles vorbereitet, Kleidung und Medikamente gepackt. Und dann habe ich einen Plan geschmiedet. Wir mussten das Land verlassen.“

Damals, erinnert sich die 36-Jährige in der ZDF-Doku „Zwischen Neuanfang und Krieg: Ukrainerinnen in Deutschland“, habe sie sich einsam und überfordert gefühlt. „Das war sehr schwer für mich, alleine mit zwei Kindern. Als ich die deutsche Sprache gehört habe, war ich schockiert und fragte mich: 'Wie kann ich das sprechen?' Aber ich musste es tun.“

„Wenn wir zusammen sind, sind wir stark“

Anna tat alles, um sich mit ihrem neuen Alltag zu arrangieren: „Ich musste Deutschkurse besuchen, ich musste einen Kindergartenplatz finden. Viele Frauen mit Kindern können keine Sprachkurse besuchen oder arbeiten, weil sie mit den Kindern zu Hause bleiben müssen.“

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Zunächst habe Anna gehofft, nach kurzer Zeit in die Ukraine zurückkehren zu können. „Damals verstand ich nicht, dass mein neues Leben begann.“ Unter Tränen berichtet sie von jenem Augenblick, in dem eine Rückkehr für sie in weite Ferne rückte: „In einem Videocall mit meinem Mann hat mein Sohn eine Rakete im Hintergrund gesehen. In der Nacht bin ich aufgewacht und habe gemerkt, dass mein Sohn Krämpfe hat - zum ersten Mal.“ Im Krankenhaus stellten Ärzte die Diagnose Epilepsie. „In diesem Moment wurde mir klar, dass es besser für uns ist, in Deutschland zu bleiben“, erklärt Anna.

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Als Opfer sieht sie sich nicht: „Das passt nicht. Ich bin stolz auf jede ukrainische Frau, weil in dieser schwierigen Zeit unsere Frauen stark sind.“ In Gelsenkirchen hat Anna über Monate hinweg ehrenamtlich das „Frauencafé“ des Roten Kreuzes geleitet, eine Art Selbsthilfegruppe für Frauen aus der Ukraine.

Sie selbst habe durch ihre Flucht eine neue Art von Freiheit erlangt: „In Deutschland kam dieses Gefühl: Okay, egal – ich kann geschieden sein, ich kann hier alles machen, ich kann eine andere Sprache sprechen, ich kann arbeiten. Das ist mein Leben, ich entscheide selbst.“

Bald, wenn sie das erforderliche Sprachzertifikat erlangt hat, will Anna hier ihrem eigentlichen Beruf als Psychologin nachgehen. „Ich möchte in Zukunft mit Frauen arbeiten, das ist mein Ziel“, sagt sie. „Ich bin mir sicher: Wenn wir zusammen sind, sind wir stark.“

„Ich muss mich nicht schuldig fühlen“

Auch die 28-jährige Lilia hat sich in Deutschland ein neues Leben aufgebaut. Sie arbeitet nach einer langen Jobsuche als Social-Media-Managerin bei einem Modelabel. Etwa 70 Bewerbungen habe sie geschrieben. Trotz ihrer Arbeitserfahrung – auch in der Ukraine war Lilia im Bereich Fashion tätig – erhielt sie nur eine einzige Zusage. „Deutsche Leute, junge Leute wie ich, mit deutscher Schulbildung, die die Sprache sprechen, die hier zu Hause sind – nicht einmal sie können den Job bekommen, den sie wollen.“

Dass einem in Deutschland „Dinge nicht einfach zufallen“, habe Lilia auch bei der Wohnungssuche bemerkt. „Wenn man in der Ukraine Geld hat, ist das genug. Dann kannst du heute Abend noch eine Wohnung finden. Hier habe ich über ein Jahr aktiv eine Wohnung gesucht – aber am Ende bin ich in die Wohnung von meiner Kollegin gezogen.“

Im Film spricht Lilia offen darüber, am sogenannten Überlebensschuld-Syndrom zu leiden. Auf Telegram erhält sie Benachrichtigungen über den Krieg, schaut sich Bilder von zerstörten Städten an. „Seit dem Beginn des Krieges ist mein Luftalarm in zwei Regionen immer eingeschaltet, in Lwiw und Odessa. Ich erlaube es mir nicht, ihn auszuschalten, weil ich es wissen muss.“

Oft frage sich die junge Frau:“Wie lange willst du noch so leben? Mit dem Schuldgefühl, keinen richtigen Spaß haben zu dürfen? Mit der Tatsache, dass es verboten ist, zu feiern? Ich tue diese Dinge. Aber es fühlt sich nicht ganz richtig an, muss ich sagen.“ Schuldgefühle seien „ein sehr undankbarer und unproduktiver Zustand“, sagt Lilia, die erst vor Kurzem zwei Wochen lang ihre Familie in der Ukraine besucht hat und nun zurück in ihrer neuen Heimat Berlin ist. Auch wenn sie es noch nicht ganz glaubt, weiß sie: „Ich muss mich nicht schuldig fühlen.“ (tsch)