Angriffe auf SchiedsrichterKommentar: Der Fußball lernt nicht aus seinen Fehlern

Christian Gittelmann (rechts) kniet auf dem Boden.

Christian Gittelmann (rechts) ist im Spiel VfL Bochum - Bor. Mönchengladbach am 18. März 2022 Opfer einer von vielen Attacken gegen Schiedsrichter geworden.

Nach einem Becherwurf auf Schiedsrichterassistent Christian Gittelmann beim VfL Bochum dreht sich der Fußball im Kreis. Die DFB-Schiedsrichter haben daraus jetzt Konsequenzen gezogen. Der EXPRESS.de-Kommentar.

von Felix Stollenwerk  (sto)

Die Vergangenheit hat immer wieder gezeigt: Aus Fehlern kann man lernen. Sie hat aber auch gezeigt, dass Fehler sehr schnell wieder vergessen werden. So auch im Umgang mit den Schiedsrichtern der Fußball-Bundesliga. Das verdeutlichten die Vorfälle des 27. Spieltages erneut und bestätigten damit den unakzeptablen Trend der Saison 2021/22, meint unser Autor. Ein Kommentar.

Dass man als Schiedsrichterin oder Schiedsrichter nicht Everybody's Darling ist, liegt in der Natur der Sache. Einer Partei gefällt die Entscheidung der Unparteiischen nun einmal immer etwas besser als der anderen. Dass sich im emotionsgeladenen, wieder mit vollen Stadien ausgestatteten Fußball die Gemüter auch erhitzen, ist nur logisch. Doch die Skandale der laufenden Saison zeigen: Aus Fehlern wird nicht gelernt.

Bellingham schießt gegen Schiri Zwayer

Der erste Tiefpunkt der Saison geschah ausgerechnet in dem Moment, in dem die meisten Augen auf die Fußball-Bundesliga gerichtet waren: Im Topspiel zwischen Borussia Dortmund und Bayern München am 4. Dezember 2021. Nach umstrittenen Entscheidungen zuungunsten des BVB war die Kritik an Schiedsrichter Felix Zwayer (40) maßlos. Noch während des Spiels wurde Trainer Marco Rose (45) wegen Protesten auf die Tribüne verwiesen. In der Folge hagelte es enorme Kritik.

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Felix Zwayer zeigt eine Gelbe Karte.

Felix Zwayer erhielt Morddrohungen. Hier im Spiel Hannover 96 - SV Darmstadt 98 am 13. Februar 2022.

Im Anschluss des Spiels gab BVB-Shootingstar Jude Bellingham (18) folgendes Statement im TV-Interview ab: „Man gibt einem Schiedsrichter, der schon mal Spiele verschoben hat, das größte Spiel in Deutschland. Was erwartest du?“ Er spielte damit auf den Wett-Skandal um Schiedsrichter Robert Hoyzer (42) an, in welchen Zwayer mit verwickelt war.

Morddrohungen für Zwayer nur Spitze des Eisbergs

Kurz darauf legte Zwayer eine Pause ein. Der 40-Jährige wurde massiv in den sozialen Netzwerken angefeindet. „Es sind Dinge passiert, die extrem einschneidend waren und die auch mein privates Umfeld getroffen haben“, sagte er. Zudem wurde er aufgrund einer existierenden Morddrohung von der Berliner Polizei kontaktiert. Nachdem durchgesickert war, wie sehr Felix Zwayer von allen Seiten angegangen wurde, erreichte ihn eine Welle der Solidarität.

Nach über zwei Monaten Pause gab der Referee am 14. Februar 2022 in der 2. Bundesliga bei der Partie zwischen Hannover 96 und Darmstadt 98 (2:2) sein Comeback. Jude Bellingham wurde vom DFB-Sportgericht zu einer Geldstrafe von 40.000 Euro verurteilt. Auch mit den Verantwortlichen des BVB habe er „die Thematik besprochen und gemeinschaftlich abgehakt“, sagte Zwayer. Es schien als hätte der Fußball aus seinen Fehlern gelernt.

Erneuter Spielabbruch nach Becherwurf sinnbildlich

Doch der 27. Spieltag markierte einen weiteren Tiefpunkt. Am Freitagabend (18. März) empfing der VfL Bochum im eigenen Stadion Borussia Mönchengladbach. Beim Zwischenstand von 0:2 aus Bochumer Sicht schmiss ein Zuschauer Schiedsrichterassistent Christian Gittelmann (39) einen vollen Bierbecher an den Kopf. Die Folge: Spielabbruch – und das völlig alternativlos. Gittelmann erlitt ein Schleudertrauma und eine Schädelprellung.

Thorsten Schiffner hält sich den Nacken.

Thorsten Schiffner wurde am 01.04.2011 im Spiel FC St. Pauli - FC Schalke 04 mit einem vollen Becher abgeworfen.

Der Vorfall erinnerte an den Becherwurf von St. Pauli im Jahr 2011. Damals flog ebenfalls ein voller Bierbecher aus dem Bereich der, über den bereits feststehenden Abstieg gefrusteten, Pauli-Zuschauer auf den Schiedsrichterassistenten Thorsten Schiffner. Erneut wurde aus einem Fehler nicht gelernt. Sinnbildlich für die Entwicklungen im Fußball.

Kerem Demirbay ahmt Bellingham nach

Doch damit nicht genug. Kerem Demirbay (28), Mittelfeldspieler von Bayer Leverkusen, wurde in der Partie gegen den VfL Wolfsburg nach einer Rudelbildung von Schiedsrichter Dr. Felix Brych (46) mit einer Gelben Karte belegt. Für Demirbay war es die zehnte in der laufenden Saison. Der ehemalige deutsche Nationalspieler fehlt damit im nächsten Spiel der Werkself. Dabei wollte er zugegebenermaßen nur schlichten.

Dass Schiedsrichter auch mal einen Fehler machen können, ließ er bei seinem Statement nach dem Spiel außer Acht. „Der Schiedsrichter geht mir so auf den Sack. Das ist Wahnsinn. Ich hoffe, dass der in Zukunft nicht mehr so häufig für uns pfeift“ griff der 28-Jährige, den Schiedsrichter Brych nach dem Spiel verbal an, woraufhin der DFB Ermittlungen einleitete.

Damit schien Demirbay nicht nur die Geschehnisse aus Bochum, sondern auch den Vorfall um Felix Zwayer komplett verdrängt zu haben. Aus dem Fehler, den Jude Bellingham gemacht hatte, lernte auch Demirbay nicht.

Aufgrund der vermehrten Beleidigungen bei Twitter wurde mittlerweile die Kommentarfunktion des DFB-Schiedsrichter-Accounts deaktiviert. Dort hätte eigentlich ein sachlicher Austausch mit Fußballfans stattfinden sollen. Bis zum Sommer bleibt jetzt nicht nur denjenigen, die auch im Fall Zwayer fleißig gehetzt haben, das Kommentieren verboten. Bis dann womöglich erneut die Fehler der jüngsten Vergangenheit vergessen werden.

Profis beeinflussen Amateursport negativ

Die unrühmlichen Verhaltensweisen der Profis haben jedoch nicht nur Einfluss auf die Beteiligten in der Bundesliga, sondern dienen auch als schlechtes Vorbild für Angriffe auf Schiedsrichter im Amateursport. 2019 wurden fast 3000 Attacken auf die Unparteiischen dokumentiert.

Die Folge ist, dass es immer weniger Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter gibt. Gab es 2011 laut DFB noch 78.455 Referees, so waren es 2019 nur noch 56.680 Unparteiische. Ein Verlust von fast 22.000 in gut acht Jahren – rund 27,75 Prozent. Ein Trend, der sich auch in den kommenden Jahren fortsetzen dürfte – vor allem, wenn aus Fehlern nicht gelernt wird und die Profis sich nicht wie solche verhalten.